In der Bildungspolitik mangelt es an einer sinnvollen Koordination zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Eine deutsche Lebenslüge
Fast schien es wie ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für die Kultusminister der Bundesländer: Die jüngst bekannt gewordenen Ergebnisse der Iglu-Studie über die Leseleistung von Grundschülern und des Leistungstests Pisa signalisieren eine Besserung; Deutschland schafft es bei einzelnen Kategorien sogar erstmals über den Durchschnitt der OECD-Länder. Doch als klar wurde, dass die großen Mängel unseres Bildungssystems – wie die starke soziale Prägung des Bildungserfolgs und die prinzipiell verminderten Chancen von Kindern mit Migrationshintergrund – unverändert existieren, waren Enttäuschung und Ärger angesagt.
Fast aus dem Blickwinkel geriet das Bildungssystem, der Fokus der Kritik richtete sich auf die international vergleichenden Studien. Methodische Defizite und fragwürdige Vorgehensweisen in einzelnen Teilnehmerstaaten wurden von den Bildungspolitikern harsch kritisiert. Abgesehen davon, dass solche Schelte als Ablenkung von den wirklichen Themen und Fragen selbstverständlich zum bewährten Instrumentarium politischer Abwehr zählt, verdeckt sie vor allem eins: die notleidende empirische Bildungsforschung in Deutschland. Die Länder haben bisher die Pläne zu einer angemessenen Bildungsberichterstattung weit verfehlt.
Es musste schon verwundern, als Mitte November die Bundesbildungsministerin und der Präsident der Kultusministerkonferenz ein Rahmenprogramm zur Stärkung der empirischen Bildungsforschung vorstellten. Das Eingeständnis, jahrzehntelang Bildungsreformen oder besser bildungspolitische Experimente im Blindflug durchgeführt zu haben, erschüttert. Uns fehlen sogar die Bildungsforscher, so weit haben Bund und Länder zuvor dieses Analysefeld austrocknen lassen. Damit ermangelt es auch einer angemessenen internationalen Vernetzung. Promotions- und Reisestipendien sollen nun den Wandel herbeiführen.
Geplant ist ferner ein "nationales Bildungspanel", das die Kompetenzentwicklung im Lebenslauf, deren Bedingungen und die kritischen Übergänge zwischen den verschiedenen Bildungsstufen analysieren soll. Nimmt man Biesen Forschungsdrang zur Kenntnis, so kann man den Eindruck gewinnen, dass wir in Deutschland erst vor kurzem mit staatlicher Schulpolitik begonnen haben. Freilich, das ist verschüttete Milch. Doch sollten die deutschen Bildungspolitiker zur Bescheidenheit gemahnt sein, wenn sie internationale Vergleiche über die stets gebotene kritische Distanz hinaus leichthändig verdammen.
Natürlich sind in den Jahren nach dem ersten Pisa-Schock auch Erfolge erzielt worden. Dies betrifft vor allem den Bereich der Grundschulen, in einigen Ländern wie Bayern und Hessen sind konsistente Bildungspläne für die ersten zehn Lebensjahre erarbeitet und eingeführt worden. Doch immer noch ergeben sich gravierende Probleme aus den isolierten Reformen einzelner Bildungsstufen, die wiederum den unterschiedlichen Verantwortlichkeiten geschuldet sind. Bund, Länder, Kommunen und Arbeitsagentur sind oftmals unkoordiniert an den Ecken des Systems tätig. Die Frage nach der Berechtigung der Länder drängt sich auf.
Eine gesamthafte Sicht der Bildungsbiografie ist noch immer nicht die Grundlage bildungspolitischer Strategien. Nur so aber werden frühzeitige Verwerfungen in der Kompetenzaneignung mit ihren langfristigen Folgen politisch effektiv adressierbar, nur so lassen sich die Übergangsprobleme lösen. Wohin schlechte Vorbereitung, unzureichende Koordinierung, mangelnde Steuerung und fehlende investive Begleitung führen, zeigt das Desaster infolge der Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre (G 8). Niemand bezweifelt, dass so ein Umstieg schwierig ist. Doch die Menge der Fehler – gerade in Hessen, das Bildungsland Nummer eins werden will – geht allein zulasten unserer Kinder und ist inakzeptabel.
Überall ist es derselbe Vorwurf: Die unzureichend entrümpelten Lehrpläne führen zusammen mit alten G9-Lehrbüchern und fehlender Schulinfrastruktur zu einer Überforderung der Kinder vor allem in der Unterstufe. Nachhaltiges Lernen kann unter diesen Bedingungen kaum stattfinden. Die für die spätere Kompetenzaneignung – sei es in der Sekundarstufe II oder in der tertiären Bildung – erforderlichen Grundlagen können so kaum gelegt werden. Wer die Bildungsprozesse beschleunigen will, der muss mit deutlich geringeren Klassengrößen und günstigeren Schüler-Lehrer-Relationen arbeiten. Das freilich kostet Geld.
Richtig ist, dass die Bildungsforschung keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen Klassengröße und Bildungserfolg kennt. So gibt es etwa empirische Untersuchungen für den Mathematik-Unterricht in den Vereinigten Staaten, die auf eine Neutralität der Klassengröße für den Bildungserfolg hinweisen. Doch gilt dies nicht bei veränderten Anforderungen und pädagogischen Konzepten. Verwundern muss auch nicht, dass geringe Veränderungen der Schüler-Lehrer-Relation wenig helfen. Es geht um weniger als 25 Schülerinnen und Schüler statt 33, wie es dem deutschen Schulalltag am Gymnasium entspricht.
Zwar ist unser Bildungssystem als Ganzes nicht unterfinanziert, wohl aber fehlfinanziert. Wer grundlegende Umstellungen vornimmt, der kommt vorübergehend ohne zusätzliche Investitionsmittel nicht aus. Doch die Bereitschaft dazu fehlt. Und das trotz aller Beteuerungen, wie auch in dem diese Woche verabschiedeten neuen Grundsatzprogramm der CDU. Doch was zählen wohlfeile Worte, wo konsequentes und konsistentes Handeln gefordert ist. Dass Bildung ein zentrales Anliegen der Politik sei, gehört zu deren ungestraften Lebenslügen. Wir haben diese Lüge zu lange geduldet.
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