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Dominik Enste / Hans-Peter Klös in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gastbeitrag 28. April 2023

Überforderung durch verengte Gerechtigkeitskonzepte

Die Sozialausgaben in Deutschland wachsen stärker als das Bruttosozialprodukt. Seit 1990 ist die Sozialleistungsquote von 24,1 auf 32,5 Prozent des BIP angestiegen. Die Finanzierung dieses Politikbereichs stößt an ihre Grenzen, die demographische Entwicklung macht das Problem noch größer.

Trotz der expansiven Ausgaben herrscht öffentlich aber ein im Grundsatz defizitärer Blick auf die deutsche Sozialstaatspolitik vor. Die aktuelle Debatte um die Kindergrundsicherung zeigt abermals eindrücklich, wie aus vermeintlichen sozial- und verteilungspolitischen Defiziten zusätzliche Leistungsgesetze und damit zusätzliche Finanzierungsbedarfe abgeleitet werden.

Dies hat auch mit der Ausdeutung verschiedener Gerechtigkeitskonzepte in der regierenden Ampelkoalition zu tun: Bevölkerungsbefragungen zeigen, dass (jeweils relativ betrachtet) SPD-Wähler stärker dem Gleichheitsprinzip zuneigen, die Wähler der Grünen stärker für Bedarfsgerechtigkeit votieren und für FDP-Wähler das Leistungsprinzip richtunggebend ist.

Bedarfsgerechtigkeit: Die zentrale Gerechtigkeitsidee bezieht sich auf die Sicherung des Existenzminimums und der menschlichen Grundbedürfnisse. Das Erreichen von Bedarfsgerechtigkeit wird häufig einkommensbezogen gemessen, wonach dann eine Armutsgefährdungslage („relative Armut“) angenommen wird, wenn eine Person oder ein Haushalt weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten Medianhaushaltseinkommens zur Verfügung hat. Die Aussagekraft dieser relativen Armutsgefährdung muss aber hinterfragt werden, weil zum einen Wohlstandssteigerungen nicht berücksichtigt werden und es zum anderen eine zunehmende Zahl von Studierenden, von Zuwanderern, von Alleinerziehenden und Alleinlebenden gibt, die ausnahmslos deutlich höhere statistische Armutsgefährdungsquoten aufweisen. Statt einer Fixierung auf die relative Armutsgefährdung wäre daher eine zielgruppengenauere Definition von Bedarfsgerechtigkeit wünschenswert.

Verteilungsgerechtigkeit: Nach diesem Prinzip sollten die Ergebnisse des Wirtschaftens möglichst gleich zwischen den Menschen verteilt werden. Das moderne Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit beruht zu großen Teilen auf John Rawls’ „Schleier der Unwissenheit“: Die Ergebnisse wirtschaftlichen Handelns seien nur dann gerecht, wenn Menschen ihnen zustimmen würden, ohne zu wissen, welchen Status sie selbst in dieser Gesellschaft innehaben würden. In Deutschland ist die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahren mit einem Gini-Koeffizienten von 0,29 entgegen der öffentlichen Wahrnehmung annähernd stabil geblieben. Auch dies zeigt, dass der deutsche Sozialstaat nicht defizitär ist.

Chancengerechtigkeit: Entscheidend für die Soziale Marktwirtschaft ist die Herstellung gerechter Startchancen. Der Zugang zu Bildung und Ausbildung ist hier zentral, die jüngsten Daten zu der Höchstzahl von jungen Menschen ohne Ausbildungsabschluss sind daher unbefriedigend. Aber zur Wahrheit gehört, dass auch der Zufall der Geburt darüber entscheidet, welche Chancen Kinder haben. Der auf Amartya Sen zurückgehende Befähigungsansatz setzt hier an: Ziel müsse die Herstellung von „Verwirklichungschancen“ sein. Diese eher liberale Gerechtigkeitstheorie sieht in der Chancengerechtigkeit durch Befähigung eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Sie setzt stärker auf der Entstehungsseite als auf der Ergebnisebene sozialer Leistungen an.

Leistungsgerechtigkeit: Ungleichheit ist nicht ungerecht, wenn sie auf unterschiedliche Leistungen zurückgeht. Wenn trotz gleicher Startchancen im Lebensverlauf Ungleichheit entsteht, kann diese durch unterschiedliche Leistungen gerechtfertigt sein. So denken in Umfragen regelmäßig rund drei Viertel der Deutschen. Frontal anders sieht das etwa Michael Sandel, der eine „Tyrannei der Leistungsgesellschaft“ diagnostiziert. Auch neuere Entwicklungen in der „Deservingness“-Forschung oder zur Notwendigkeit der Begrenzung von Reichtum („Limitarismus“) gehen in diese Richtung. Der Kontrast zum Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft könnte allerdings kaum größer sein, wonach Einkommen grundsätzlich zunächst nach dem Leistungsprinzip erzielt werden sollen.

Generationengerechtigkeit: Für die Beurteilung der Generationengerechtigkeit sind spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch die ökologischen Lebensbedingungen zukünftiger Generationen zu beachten. Die intergenerationale Gerechtigkeit gilt dann als erfüllt, wenn die heutigen Generationen nicht auf Kosten der kommenden Generationen leben. Dies gilt aber eben auch für die Nachhaltigkeit der finanziellen Belastungen der nächsten Generationen. Gerechtigkeitspolitisch folgt daraus, neben den offiziell ausgewiesenen Staatsschulden (explizite Schulden) auch die Belastungen der künftigen Generationen (implizite Schulden) mit einzubeziehen, die durch die sozialen Sicherungssysteme und namentlich durch die Ansprüche aus der Rentenversicherung und der Beamtenpensionen entstanden sind.

Dass eine nachhaltige Finanzpolitik gerade auch aus der Perspektive der Generationengerechtigkeit geboten ist, zeigt exemplarisch, dass es zwischen den einzelnen Gerechtigkeitskonzepten durchaus harte Zielkonflikte gibt, die sich auch im politischen Handeln niederschlagen. Eine weitere Expansion von Sozialleistungen kann im Widerspruch zur Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen stehen. Umso wichtiger ist, dass die konkurrierenden Gerechtigkeitsvorstellungen in der Ampelkoalition nicht aus der Balance geraten. Eine Debatte über die Priorisierung sozialpolitischer Maßnahmen angesichts knapper Kassen ist daher überfällig.

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