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Simon Gerards Iglesias IW-Kurzbericht Nr. 76 9. Oktober 2024 Hat Deutschland zu viele Richter?

In Deutschland waren im Jahr 2022 über 22.000 Berufsrichter und über 6.500 Staatsanwälte im Staatsdienst tätig. Damit liegt die Anzahl an Richtern und Staatsanwälten international absolut sowie auf die Bevölkerungszahl bezogen mit an der Spitze.

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Hat Deutschland zu viele Richter?
Simon Gerards Iglesias IW-Kurzbericht Nr. 76 9. Oktober 2024

Hat Deutschland zu viele Richter?

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

In Deutschland waren im Jahr 2022 über 22.000 Berufsrichter und über 6.500 Staatsanwälte im Staatsdienst tätig. Damit liegt die Anzahl an Richtern und Staatsanwälten international absolut sowie auf die Bevölkerungszahl bezogen mit an der Spitze.

Trotzdem wird über Überlastung des Justizsystems und Richtermangel geklagt. Der Grund dafür ist ein teures und bürokratisches Justizsystem, das den heutigen Anforderungen nicht mehr entsprechen kann.

Im diesjährigen Bericht der EU-Kommission über die Rechtsstaatlichkeit in der EU findet sich im Kapitel über Deutschland die Empfehlung, die Richterbesoldung deutlich anzuheben (EU-Kommission, 2024a, S. 6). Dies wird nicht zuletzt deshalb gefordert, weil die Stellen für Richter und Staatsanwälte unterbesetzt seien und darüber hinaus aufgrund der Arbeitsbelastung und der Bearbeitungszeiten ferner die Schaffung von 1.500 neuen Stellen erforderlich sei (ebd., S. 9ff.). Der Mangel an Richtern, insbesondere im Hinblick auf das hohe Durchschnittsalter der Richter (nach Angaben der Bundesregierung an Bundesgerichten 55 Jahre), ist – vor allem vom Richterbund artikuliert – ein bekanntes Thema und nährt die Sorge um die Funktionsfähigkeit der deutschen Justiz. Auch der Rückgang der Anzahl von Nachwuchskräften und Absolventen an den juristischen Fakultäten (IQB, 2022) lässt Zweifel an einer gut ausgestatteten Justiz aufkommen.

Zwar ist die Richterbesoldung im EU-Vergleich tatsächlich unterdurchschnittlich, jedoch liegen die Einstiegsgehälter durch die R-Besoldung mit über 5.021 Euro in der niedrigsten Besoldungsgruppe in Bayern über dem durchschnittlichen Einstiegsgehalt mittelständischer Kanzleien (IQB, 2024). Dazu kommen attraktive Leistungen wie Pensionszahlungen und das Beamtenverhältnis. Ein Richtermangel ist vielmehr den hohen Einstellungsvoraussetzungen (doppeltes Vollbefriedigend) geschuldet.

So wenig ein demografisch bedingter drohender Richtermangel zu verkennen ist, so sehr wird in der Debatte ein grundsätzliches Problem ausgeblendet. Denn Deutschland leistet sich ein Justizsystem, das eine große Anzahl an Richtern und Staatsanwälten voraussetzt, und das seit langem. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Anzahl der Berufsrichtern und Staatsanwälte an der Spitze.  

Die Abbildung zeigt die absolute Anzahl an Berufsrichtern sowie die Anzahl an Berufsrichtern je 100.000 Einwohner in vergleichbaren Ländern. Deutschland liegt mit über 22.000 tätigen Richtern nur knapp hinter den auf die Bevölkerung bezogen fast viermal so großen USA mit 24.000 Berufsrichtern. Damit leistet sich Deutschland fast dreimal so viele Richter wie Frankreich und Italien und viermal so viele wie England (mit Wales). Dies schlägt sich in den relativen Zahlen nieder, bei denen Deutschland mit 25 Richtern pro 100.000 Einwohnern deutlich an der Spitze liegt im Vergleich zu ähnlich großen Ländern in Europa. Auch die Anzahl von Staatsanwälten übersteigt deutlich die der europäischen Nachbarn (EU-Kommission, 2021). Grundsätzlich sind weniger Richter nicht unbedingt besser: gerade das Beispiel England und Wales zeigt, dass ein System mit wenig Stellen ineffizient arbeitet und Gegenstand massiver öffentlicher Kritik ist (Prospect Magazine, 2024). Dennoch stellt sich die Frage, wie die Arbeitsweise des deutschen Gerichtssystems verbessert werden kann, insbesondere mit Hinblick auf den angegebenen und vom Richterbund prognostizierten Mangel an Richtern und Staatsanwälten (FAZ, 2023). 

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Der hohe Personalbedarf des deutschen Justizwesens führt zu einem hohen finanziellen Aufwand. Die Ausgaben für das Justizwesen pro Einwohner sind in Deutschland zwischen 2012 und 2022 auf knapp 180 Euro gestiegen und liegen damit hinter Luxemburg auf dem zweiten Platz in der EU (EU-Kommission, 2024b, S. 30). Zwar finanziert sich der Haushalt des Bundesjustizministeriums immerhin zu knapp zwei Dritteln selbst durch Prozessgebühren und Patentgebühren (Bundestag, 2024). Doch der hohe Personalaufwand steht in keinem Verhältnis zur Arbeitsweise des Justizwesens. Das deutsche Justizsystem befindet sich in Punkto Effizienz, bspw. in der Verfahrensdauer, nur im Mittelfeld der EU-Mitgliedsstaaten (EU-Kommission, 2024b).

Diese Befunde sind alles andere als neu. Bereits 1989 schlug der ehemalige Hamburger Justizsenator und Erste Bürgermeister Peter Schulz eine Justizreform vor, um die Überlastung und Ineffizienz der deutschen Justiz zu beheben (Schulz, 2001). Beispielsweise müssen die Zivilkammern der Landgerichte in erster Instanz über kleine Streitigkeiten wie Reparaturkosten (ab 5.000 Euro, bald 8.000 Euro, Bundesministerium der Justiz, 2024) entscheiden und binden damit erhebliche Ressourcen für vergleichsweise kleine Fälle. Hinzu kommt die Bearbeitung von Berufungssachen, die zwar bei den Landgerichten zuletzt rückläufig war und zu einem Abbau des Verfahrensstaus geführt hat, sich aber bei den Oberlandesgerichten zwischen 2012 und 2022 verdoppelt hat (Destatis).

Gleichzeitig zeigen die Statistiken einen deutlichen Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten, was zum einen auf die Zunahme außergerichtlicher Verfahren als Folge der letzten größeren Zivilprozessreform 2001, zum anderen aber auch auf die unzureichende Ausstattung und Kompetenz der Justiz zurückzuführen ist. Denn eine Expertenbefragung hat ergeben, dass wesentliche Gründe für den Rückgang der Eingangszahlen in Zivilsachen die mangelnde Spezialisierung der Gerichte und die weiterhin schleppende Digitalisierung der Justiz sind (Ekert et al., 2023).

Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist das oftmals fehlende Verständnis von Richtern über komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge ein Problem. Der Grund dafür liegt im veralteten Ausbildungssystem, das auf eine generalistische Ausbildung setzt und anders als in den USA keine ökonomische Kompetenzbildung einschließt. Die Zivilprozessordnung braucht keine grundlegende Reform, doch fehlt es an der Schulung der Richter, den Spielraum etwa für den Einsatz von Schiedspersonen zu nutzen. Auch der Übergang zu einem dreistufigen Gerichtssystem mit der Einrichtung von Fachkammern anstelle einer eigenen Fachgerichtsbarkeit könnte Ressourcen bündeln und Synergien schaffen.  

Besserung könnten die seit 2020 zunächst in Baden-Württemberg eingerichteten Commercial Courts bringen, die nach und nach von anderen Bundesländern übernommen werden. Diese, speziell auf Unternehmensfälle spezialisierten Kammern an Land- und Oberlandesgerichten, sollen eine Alternative zu bislang dominierenden Schiedsverfahren bei Unternehmensstreitigkeiten sowie zu ausländischen Handelsgerichtskammern darstellen (EY, 2024). Spezialisierte Richter und die Möglichkeit einer englischsprachigen Verhandlung erweitern den bisherigen Rahmen deutlich. Doch kann jedes Bundesland selbst über die Einrichtung und die Sachbereiche entscheiden, so dass ein „Flickenteppich“ mit zusätzlicher Bürokratie droht (EY, 2024). Größtes Defizit ist der Ausschluss von Streitigkeiten mit chinesischen und US-amerikanischen Unternehmen an Commercial Courts, da weder die USA noch China dem dafür notwendigen Haager Übereinkommen über Zivilprozessrecht (1954) beigetreten sind.

Auf die deutschen Gerichte, insbesondere auf die Landgerichte, kommen in Zukunft neue Aufgaben und Anforderungen mit einer veränderten Verfahrensdynamik im Bereich der Zivilsachen zu, denen sie in ihrer bisherigen Struktur kaum gewachsen sind (Ekert et al., 2023). Der Gesetzgeber hat zwar versucht, Verbesserungen einzuführen, die aber bisher wenig genutzt werden und das Grundproblem der Überlastung der Gerichte nicht lösen.

Der demografische Wandel stellt die deutsche Justiz, insbesondere die Besetzung der Richterstellen, vor große Herausforderungen. Trotz der im internationalen Vergleich hohen Anzahl an Richtern und Staatsanwälten ist die deutsche Justiz nur unzureichend vorbereitet. Um den Herausforderungen eines modernen Staatsapparates mit einer effizient arbeitenden Justiz gerecht zu werden, die den Standort Deutschland stärkt und das Vertrauen in die Institutionen erhöht, bedarf es weiteren Schritten zur Effizienzsteigerung.

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