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Christiane Flüter-Hoffmann / Andrea Kurtenacker IW-Kurzbericht Nr. 112 11. November 2020 Menschen mit Behinderungen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt

Seitdem vor 30 Jahren das amerikanische Gesetz zur Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet wurde, haben die Themen Diversity, Inklusion und Barrierefreiheit in den USA einen großen Aufschwung erfahren. Jetzt hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) ein amerikanisches Instrument zur Analyse der Barrierefreiheit als vorbildlich auch für Unternehmen in Deutschland vorgestellt.

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Menschen mit Behinderungen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt
Christiane Flüter-Hoffmann / Andrea Kurtenacker IW-Kurzbericht Nr. 112 11. November 2020

Menschen mit Behinderungen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt

IW-Kurzbericht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Seitdem vor 30 Jahren das amerikanische Gesetz zur Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet wurde, haben die Themen Diversity, Inklusion und Barrierefreiheit in den USA einen großen Aufschwung erfahren. Jetzt hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) ein amerikanisches Instrument zur Analyse der Barrierefreiheit als vorbildlich auch für Unternehmen in Deutschland vorgestellt.

Im Sommer 2020 gedachten viele amerikanische Behindertenverbände sowie Betroffene selbst des Gesetzes, das der damalige US-Präsident George W. Bush genau vor 30 Jahren, am 26. Juli 1990, unterzeichnet hat: das Gesetz zur Gleichbehandlung von Amerikanern mit Behinderungen (Americans with Disabilities Act – ADA). Das Gesetz regelt für Menschen mit Behinderungen unter anderem Fragen der behinderungsgerechten Arbeitsplatzgestaltung bei Arbeitgebern mit mindestens 15 Beschäftigten, des öffentlichen Nahverkehrs oder der Telekommunikation.

Anfangs war das Gesetz stark umstritten, weil es in den ersten Jahren das Gegenteil von dem bewirkte, was eigentlich beabsichtigt war: Die Erwerbstätigenquote der Menschen mit Behinderungen sank. Als Grund dafür ermittelten verschiedene Forscher vor allem die steigenden Kosten der Arbeitgeber für die behinderungsgerechte Ausstattung der Arbeitsplätze (DeLeire 2003, 259, 264). Aber auch die unterschiedliche Ausgestaltung des Gesetzes in den Bundesstaaten hatte einen Effekt und die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen sich zunächst gänzlich vom Arbeitsmarkt abwandten und nicht mehr als arbeitssuchend geführt wurden. Das hatte eine Verringerung der Erwerbsquote zur Folge und es zeigte sich daher vermeintlich ein negativer Beschäftigungseffekt durch die geringeren Erwerbstätigenzahlen.

Auch heute noch gibt es einen großen Unterschied zwischen der Erwerbstätigenquote von Menschen mit und ohne Behinderungen: In den USA waren 2019 durchschnittlich 30,9 Prozent der 16- bis 64-jährigen Menschen mit Behinderungen erwerbstätig, aber 74,6 Prozent der Menschen ohne Behinderungen. Im Unterschied zur Erfassung der Erwerbstätigkeit von Menschen mit Behinderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, bei der im Mikrozensus der vom Versorgungsamt zuerkannte Grad der Behinderung als Indikator gilt (Flüter-Hoffmann/Kurtenacker, 2020), ist die Bezeichnung „Menschen mit Behinderungen“ in der amerikanischen Beschäftigungsstatistik eine Selbstzuschreibung: Knapp 30 Millionen Menschen ab 16 Jahren bezeichnen sich in der amerikanischen Arbeitsmarktstatistik, die über das CPS (Current Population Survey) erstellt wird, als behindert (Tabelle). Das CPS ist eine monatliche Erhebung in etwa 60.000 amerikanischen Haushalten, die als Grundlage für die nationale amerikanische Beschäftigungsstatistik dient. Die Zahlen der Menschen mit Behinderungen aus dem CPS stimmen nicht mit denen des offiziellen Sozialversicherungsamtes (Social Security Disability Program) überein, nach dem zehn Millionen Menschen in den USA als behindert anerkannt sind und eine finanzielle Unterstützung von durchschnittlich 1.234 US Dollar im Monat erhalten. Die CPS-Erhebung ermittelt seit dem Jahr 2008 Behinderungen anhand von sechs Fragen, beispielsweise ob die Person blind oder gehörlos ist, aber auch, ob sie aufgrund von körperlichen, geistigen oder emotionalen Einschränkungen Schwierigkeiten hat, zum Arzt oder einkaufen zu gehen (vgl. Legende der Tabelle).

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Lag die Erwerbstätigenquote der Menschen mit Behinderungen in den USA im August 2019 noch bei 34 Prozent (Männer) bzw. 30 Prozent (Frauen), so ist sie aufgrund der Corona-Pandemie inzwischen auf 32 Prozent (Männer) bzw. 26 Prozent (Frauen) gesunken (Tabelle). Bei den nicht behinderten Männern und Frauen sank die Quote sogar um jeweils 5 Prozentpunkte von 80 auf 75 Prozent (Männer) bzw. von 69 auf 64 Prozent (Frauen). Die Arbeitslosenquote hat sich bei allen vier Gruppen durch den Lockdown und zahlreiche Insolvenzen von August 2019 bis August 2020 ungefähr verdoppelt, bei den Menschen mit Behinderungen allerdings auf wesentlich höherem Niveau. So stieg die Arbeitslosenquote der behinderten Frauen von 8,2 auf 16,3 Prozent, diejenige der behinderten Männer von 7,2 auf 13,2 Prozent. Bei den Menschen ohne Behinderung war es ein Anstieg von 4,0 auf 8,8 Prozent (Frauen) bzw. 3,6 auf 8,4 Prozent (Männer).

Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) in Berlin von März 2018 bis Oktober 2019 eine internationale Studie durchgeführt, die anhand von innovativen Beispielen aus dem Ausland zeigen sollte, wie Barrieren in Unternehmen abgebaut werden können und der Zugang von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessert werden kann. Als Beispiel für gelungenen Abbau von Barrieren in den USA stellte die DGUV ein Benchmark-Tool vor, das der Einstufung von Unternehmen im Bereich Barrierefreiheit und Inklusion am Arbeitsplatz dient. Es ist der sogenannte Disability Equality Index (DEI), der im Jahr 2012 entwickelt und im Jahr 2014 als Pilotprojekt mit 48 Unternehmen erprobt wurde (Mehrhoff/Becker, 2020). Im Jahr 2018 beteiligten sich 145 Unternehmen an dem Index, im Jahr 2019 waren es 180 Unternehmen und dieses Jahr 247. Wer mindestens 80 Prozent der Punkte erzielt, erhält die Auszeichnung als „Best Place to Work for Disability Inclusion™“. Das Audit 2020 meisterten 205 Unternehmen mit mindestens 80 Prozent der Punkte (AAPD/Disability:IN, 2020). Die Unternehmen ließen ihre aktuelle Situation anhand unterschiedlicher Prüfkategorien bewerten:

  • Unternehmenskultur und Führung (z. B. Leitlinien zu Inklusion)
  • Unternehmenszugang (z. B. barrierefreier Zugang)
  • Einstellungs-/Beschäftigungspraktiken (z. B. Personalentwicklung für Beschäftigte mit Behinderungen)
  • Gesellschaftliches Engagement und Unterstützungsdienste (z. B. finanzielle Unterstützung von Inklusion in der Kommune)
  • Lieferantenvielfalt (z. B. Zulieferfirma mit behinderten Führungskräften)

Die DGUV bewertet das Benchmark-Tool als vorteilhaft auch für Unternehmen in Deutschland, weil die Verankerung der Barrierefreiheit und Inklusion als Qualitätsmerkmal in der Unternehmensbewertung Bewusstsein im Top-Management schaffe und neue Möglichkeiten eröffne, unternehmensinterne Barrieren abzubauen und noch nicht genutzte Potenziale zu erschließen (Mehrhoff/Becker 2020, 35). Ob allerdings der Vorschlag der DGUV, man könne an den „Grad der Barrierefreiheit“ eines Unternehmens staatliche Förderleistungen knüpfen, insgesamt positiv in der Wirtschaft aufgenommen wird, ist eher zweifelhaft.

Im DEI-Benchmark-Verfahren 2020 in den USA haben auch international operierende Unternehmen mit dem Hauptsitz in Deutschland teilgenommen. Darunter erzielten Boehringer-Ingelheim, Merck, SAP, Siemens und T-Mobile die beste Bewertung mit 100 Prozent (https://disabilityin.org/what-we-do/disability-equality-index/2020companies/).

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