IW-Direktor Michael Hüther kritisiert im Interview mit Focus online, dass die Politik die dringend nötige Reform der gesetzlichen Rente nicht anpackt. Die vollmundigen Versprechen der Parteien vor der Bundestagswahl hält er für zu teuer. Doch er blickt optimistisch auf die Wirtschaft im Jahr 2022.
Rente mit 67 reicht nicht: „Wir werden länger arbeiten müssen”
Die Gesellschaft wird immer älter, aber ein richtiges Konzept dafür hat keine der Parteien. Oder sehen Sie Ansätze, damit die Rente sicher bleibt?
Was hier passiert, ist unverantwortlich. Keiner nimmt das Thema ernsthaft auf. Wohlgemerkt, bis 2030 verlieren wir drei Millionen Arbeitnehmer. Daher ist das Sicherungsniveau bis 2025 reiner Budenzauber.
Wir müssen Arbeitskräfte mobilisieren und das Jahresarbeitsvolumen erhöhen, im Vergleich zu Schweden und der Schweiz hinken wir noch spürbar hinterher. Bis 2030 ist das Rentenzugangsalter definiert, dann gilt 67 für alle. Aber das reicht nicht, sondern wir müssen über eine weitere Flexibilisierung nachdenken. Oder klarer ausgedrückt: Wir werden mehr oder länger arbeiten müssen.
Der Staat tut aber so, als wäre alles in bester Ordnung.
Ja, sie gaukeln vor, dass wir uns kaum anpassen müssen. Aber allein der Anstieg des Durchschnittsalters in Unternehmen zeigt den dringenden Handlungsbedarf. In der Politik tun alle klug, eine Lösung hat keiner! Das Potenzial der Erwerbspersonen schrumpft, das wird einfach ignoriert.
Ist der häufiger diskutierte Staatsfonds die Rettung oder brauchen wir eine Reform des Rentensystems?
Das Drei-Säulen-Modell mit gesetzlicher Rente, betrieblicher und privater Altersvorsorge ist an sich nicht schlecht. Die umlagebasierte Rente als Basissicherung reicht weit über das Grundrentenniveau hinaus. Daher halte ich von einer Sonderfondslösung als kapitalmarktgedeckte Rente nicht viel.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Der Staat könnte die Nullzinsen nutzen und einen großen Fonds auflegen, beispielsweise mit 500 Milliarden Euro, die er sich am Kapitalmarkt leiht.
Doch eine Ähnlichkeit zum norwegischen Staatsfonds …
Ja, nur dass wir kein Öl haben, sondern mit Bonität punkten. Mit dieser Summe bauen wir einen Aktienfonds auf, um die demografischen Kosten der Rente und Pflege abzufedern. Denn auf diesem Gebiet schlägt der Alterungsprozess von 2040 bis 2060 bei uns voll durch. Das setzt aber Mut voraus.
Wie könnte das konkret aussehen? Wenn 500 Milliarden Euro auf einmal in den Kapitalmarkt fließen, würde ich das gerne vorher wissen und noch schnell Aktien kaufen.
Na ja, das sollte natürlich in marktschonenden Tranchen investiert werden. 50 Milliarden im Jahr wirft keinen Kapitalmarkt um und Zeit genug ist ja, denn die erste Auszahlung soll erst in 20 Jahren erfolgen. Die Finanzagentur des Bundes könnte das managen.
Wo wir gerade bei der Finanzierung sind: Halten Sie die Wahlversprechen der großen Parteien für finanzierbar?
Die Finanzpolitik wird bewusst umgangen, schauen Sie sich nur den Entwurf des Wahlprogramms und dann das endgültige Programm der CDU an. Bei allen Parteien kann ich keine vernünftige Gegenfinanzierung erkennen. Ein Problem, denn bei der strukturellen Verschuldung ist nicht mehr viel frei. Und wir haben viele Aufgaben zu bewältigen.
Welche zum Beispiel?
Wir benötigen flächendeckend schnelles Internet, das Thema Dekarbonisierung treibt uns um, um nur einmal zwei zu nennen. Mit der Schuldenbremse wird die Finanzierung aber schwierig. Ein Deutschlandfonds mit dem Thema Infrastruktur könnte helfen, die Grünen haben das wenigstens im Parteiprogramm drin. Bei der SPD ist es schwurbelig, CDU und FDP meiden das Thema wie eine heiße Kartoffel. Das könnte man auch anders lösen.
Mit mutigeren Wahlprogrammen, in denen auch die Wahrheit steht?
Natürlich, wo ist denn das Problem? Wir wollen klimaneutral ab 2045 oder 2050 werden, das hat Konsequenzen. Ohne massive und zügige Infrastrukturinvestitionen in Netzsystemen wird es nicht funktionieren, da kann es keinen Dissens geben. Dazu steigen der Benzinpreis und auch die Mieten infolge der Einbeziehung in den CO2-Zertifikatehandel; das wird man sozialpolitisch teilweise kompensieren müssen.
Das würde die Inflation weiter nach oben treiben. Sehen Sie diese als temporär oder als dauerhaftes Problem an?
In der Eurozone hatten wir im August drei Prozent Inflation, davon sind 15,4 Prozent auf steigende Energiepreise zurückzuführen. Die Kerninflation hat sich von 0,7 auf 1,6 Prozent erhöht, wir sollten schon sehr genau darauf achten. Aktuell haben wir aber vor allem Lieferprobleme und die Vorleistungspreise steigen, das wird sich im ersten Halbjahr 2022 zurückbilden.
Seit Mai müssen Firmen wieder melden, wenn sie insolvent sind. Warum ist die Pleitewelle trotz der ganzen Probleme ausgeblieben?
Es gibt mehrere Gründe. Der wichtigste ist sicherlich, dass mit dem Kurzarbeitergeld den Unternehmen direkt Liquidität zugeflossen ist – 2020 waren es 22 Milliarden Euro, in diesem Jahr bisher 16 Milliarden. Insgesamt sind die Firmen trotz geringerer Umsätze gut durch die Pandemie gekommen und haben sogar Corona-Hilfen in Höhe von einer Milliarde Euro freiwillig zurückgezahlt. Zudem unterliegen Einzelunternehmen nicht der Insolvenzpflicht.
Zeigen die fehlenden Insolvenzen demnach, dass der wirtschaftliche Einbruch fast wieder überstanden ist?
Trotz der schwierigen Konjunktur in den Jahren 2018 und 2019 haben wir damals schon einen Rückgang der Insolvenzzahlen gesehen. Nun setzen wir da wieder auf, sozusagen auf Normalniveau. Beachtlich finde ich, dass wir 20 Monate nach der Finanzkrise an den Börsen noch im Minus waren, während jetzt alle Börsen (mit Ausnahme der in Madrid) dicke im Plus sind.
Wenn wir uns der Normalität nähern: Mit welchem Wirtschaftswachstum rechnen Sie im kommenden Jahr?
Auf jeden Fall erwarte ich für 2022 ein stärkeres Wachstum als drei Prozent wie in diesem Jahr. Die Lieferengpässe sortieren sich langsam, da kann es zu einem überraschenden Wachstumsschub kommen. Ich halte im kommenden Jahr 4,5 Prozent plus x für machbar. 5 Prozent wären eine mutige These.
Wachsen alle Bereiche?
Nein, in der Autobranche sieht es nicht ganz so gut aus, bedingt durch die Lieferengpässe. Da bewegen wir uns lediglich auf 75 Prozent des Vorkrisenniveaus. Und auch bei Gaststätten und Hotels sowie im Einzelhandel gibt es Probleme. Aber wenn die Reisebranche in Not ist, zeigt sich das auch nicht zwingend in Insolvenzen. Ein Beispiel: Bei mir in Köln gibt es einen Hotelier, der drei kleinere Hotels hatte. Zwei davon hat er aufgrund von Corona geschlossen, weil sie sich nicht mehr gelohnt haben. In der Statistik fällt das aber nicht auf.
Könnte die Industrie eigentlich einen weiteren Lockdown verkraften?
Das ist außerhalb der Vorstellungswelt, denn die Impfkampagne ist ein Game-Changer, da 70 Prozent der impfbaren Erwachsenen aktuell geimpft sind. Käme es zu einem erneuten Lockdown, wäre der Schock besonders hoch. Aber für die Annahme gibt es keinen Grund. Problematisch wäre es, wenn die Länder weiterhin auf eine Zero-Covid-Strategie setzen würden. Aber selbst China und Neuseeland haben erkannt, dass dies keine sinnvolle Strategie ist, kämpfen nun aber mit dadurch geringen Impfquote. Wir haben offene Grenzen. Bei einer globalen Vernetzung können wir ein Virus nicht national austrocknen.
Was erwarten Sie vom Herbst? Sehen Sie eine gewisse Vorsicht bei den Unternehmen?
Nicht bei den Ausgaben, sondern eher beim Arbeitsschutz. Wichtig ist das Thema Impfstatus, da muss den Unternehmen die Möglichkeit der Abfrage gegeben werden. Die Maskenpflicht wird ansonsten bleiben, während der Druck auf 2G statt 3G zunimmt.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die erneute Verlängerung der „Gefahrenlage“ in Deutschland?
Um keine Probleme zu bekommen, hat der Bundestag die „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ um drei Monate verlängert. Das hat aber für Knatsch gesorgt, denn bei unserem Impfstatus gibt es keine Legitimation mehr dafür. Ich sehe das kritisch.
Zum Interview auf focus.de
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