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Heiner Flassbeck und Michael Hüther in der Zeit Interview 21. Februar 2013

"Es braucht eine neue Wende"

Die Ökonomen Heiner Flassbeck und Michael Hüther streiten in der Zeit über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik und den Weg aus der Krise

DIE ZEIT: Herr Flassbeck, Herr Hüther, der Sachverständigenrat feiert in dieser Woche sein 50-jähriges Bestehen. Wie weise sind die fünf Weisen eigentlich?

Michael Hüther: In der Politikberatung bedeutet Weisheit, dem wissenschaftlichen Auftrag gerecht zu werden, ohne die Sachzwänge der Politik zu vergessen. Ich glaube, dass dem Rat diese Balance in den vergangenen 50 Jahren gelungen ist.

Heiner Flassbeck: Da muss ich Ihnen widersprechen. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass der Rat keine konkreten politischen Empfehlungen geben darf. Er soll Handlungsoptionen aufzeigen, Vorteile und Nachteile beschreiben. Das findet aber immer weniger statt, weil sich der Rat in den siebziger Jahren massiv ideologisch aufgeladen hat und sich als Speerspitze im Kampf für freie Märkte und gegen keynesianische Rezepte versteht.

Hüther: Wenn der Sachverständigenrat nach Abwägung aller Argumente einen Weg für erfolgversprechender hält als einen anderen, dann darf er das nicht nur sagen – er muss es sogar. Genau so lief es mit dem Gutachten "20 Punkte für mehr Wachstum und Beschäftigung" aus dem Jahr 2002, das dann zur Grundlage für die Sozialreformen von Gerhard Schröder wurde.

Flassbeck: Das ist ein gutes Beispiel. Der Rat hat eine Ansammlung von angebotspolitischen Empfehlungen aufgeschrieben und die Nachfrageseite der Wirtschaft komplett ignoriert. Die SPD hatte keinerlei wirtschaftspolitische Konzepte und musste völlig hilflos zusehen, wie die Konjunktur den Bach hinunterging. Deshalb hat sie das Gutachten aufgegriffen und daraus die Agenda 2010 gebastelt. Das ist doch keine seriöse Politikberatung, sondern ein Armutszeugnis für die Regierung.

ZEIT: Heute wird Schröder dafür gelobt.

Flassbeck: Ist doch klar. Bei einem Wahlergebnis von 23 Prozent fällt es dem politischen Gegner leicht, die SPD zu loben.

Hüther: Moment! Es gab damals einen gesellschaftlichen Konsens, dass das Land Reformen braucht. Vor dem Hintergrund dieser Kulisse konnte das Gutachten seine Wirkung entfalten. Und übrigens gelten die Reformen auch international als vorbildhaft.

ZEIT: Der Rat ist – Sie sprachen es an, Herr Flassbeck – in den siebziger Jahren auf einen marktliberalen Kurs umgeschwenkt. War diese Wende mit Blick auf die Finanzkrise ein Fehler?

Hüther: Ich sehe da keinen Zusammenhang.

ZEIT: Die Liberalisierung der Finanzmärkte ist eine der Ursachen der Krise.

Hüther: Es ging damals nicht um die Finanzmärkte. Man beobachtete, dass nach Konjunkturkrisen die Arbeitslosigkeit nicht wieder auf das Vorkrisenniveau sank, sondern ein stets höherer Sockel an Arbeitslosen übrig blieb. Daraus hat man den Schluss gezogen, dass die klassische Nachfragepolitik – der Versuch, die Wirtschaft durch Konjunkturpakete anzukurbeln – an ihre Grenzen gestoßen ist, und den Blick auf die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens, vor allem des Investierens, gerichtet.

Flassbeck: Und das war zum Teil auch berechtigt.

ZEIT: Jetzt überraschen Sie uns!

Flassbeck: Das mag schon sein. Damals war der Anteil der Löhne an der Wirtschaftsleistung rasant gestiegen, darauf musste reagiert werden. Da ist etwas grandios schiefgelaufen. Aber nun läuft etwas ganz anderes schief. Die Lohnquote in der industrialisierten Welt ist so niedrig wie nie zuvor, und trotzdem steigt die Arbeitslosigkeit. Die alten Erklärungsmuster passen nicht mehr. Es braucht eine neue Wende.

ZEIT: Wie sollte die aussehen?

Flassbeck: Es geht um die Frage, ob staatliche Eingriffe in die Lohnfindung nötig sind. Wenn die Löhne nicht steigen, kann die Welt nicht konsumieren, und wenn nicht konsumiert wird, wird nichts produziert. Ich bin gespannt, ob wir die intellektuelle Freiheit haben, wieder umzudenken.

Hüther: Sie machen es sich zu einfach. Die Länder lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Wir brauchen nationale Antworten, da hilft die globale Lohnquote nicht weiter.

ZEIT: Was schlagen Sie vor?

Hüther: In den Boomjahren wurden Investitionen getätigt, die sich als nicht profitabel herausstellten – nehmen Sie zum Beispiel den spanischen Immobilienmarkt. Diese Exzesse müssen bereinigt werden, und das dauert eben. Höhere Löhne sind nicht die Lösung, wir haben ein Problem mit der Wettbewerbsfähigkeit.

Flassbeck: Die Welt insgesamt kann ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht verbessern! Gegenüber wem sollte sie billiger werden? Gegenüber dem Mars?

Hüther: Ich rede von Südeuropa. Wenn dort die Arbeitslosigkeit hoch ist, dann hat das auch damit zu tun, dass die Unternehmen wegen der hohen Lohnkosten auf den Weltmärkten nicht bestehen können. In Deutschland mag das anders aussehen. Ich halte es für nicht mehr angemessen, die Ökonomie in eine neoklassische und eine keynesianische Denkschule aufzuteilen. So einfach ist die Welt nicht.

Flassbeck: Es mag viele verschiedene Theorien geben, im Kern aber lassen sie sich immer auf einen der beiden Stränge zurückführen. Das müsste der Sachverständigenrat widerspiegeln. Im Moment haben dort aber die Neoklassiker das Sagen. Nur Peter Bofinger gibt regelmäßig Minderheitsvoten ab, und die vier anderen erwecken den Eindruck, Bofinger sei ein Exot, der sich zufällig in den Rat verirrt habe. Der hätte vor der Agenda 2010 zwei Mal 20 Punkte für Wachstum und Beschäftigung aufschreiben müssen – einmal aus angebotspolitischer und einmal aus nachfragepolitischer Sicht.

ZEIT: Dann dreht doch die Politik völlig durch!

Flassbeck: Warum? Die Experten in den Ministerien müssen doch in der Lage sein, zwei verschiedene Handlungsoptionen auf den Tisch zu legen. Und die können dann, angesichts ihrer politischen Prioritäten, entscheiden, ob sie Weg eins, zwei oder eine Mischung aus beiden wählen.

ZEIT: Wenn die Kanzlerin sich beschwert, dass sie von zwei Ökonomen drei Meinungen zu hören bekommt, dann lässt sich das also nicht ändern?

Hüther: Als Wissenschaftler können wir nicht mit einer Wahrheit aufwarten. Wer das fordert, macht es sich zu einfach. Es ist ja nicht so, dass ich, wenn ein Problem auftaucht, einen Schrank öffne, ein Buch herausziehe und dort steht dann die Lösung. Die Antworten, die wir geben, sind häufig Antworten auf Zeit. Wir können zwar – da würde ich weiter gehen als Heiner Flassbeck – möglichst konkrete Empfehlungen formulieren, am Ende muss die Politik die Entscheidungen treffen und dafür die Verantwortung übernehmen.

ZEIT: Die meisten Ökonomen erwecken den Eindruck, nur sie wüssten, wo es langgeht.

Hüther: Ich halte das auch für problematisch. Wenn wir als Wissenschaftler nicht mit einem Mindestmaß an Bescheidenheit auftreten, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit.

ZEIT: Haben Sie die nicht schon längst verloren? Für viele Politiker ist Ökonomie doch nichts anderes als Kaffeesatzleserei. Die Ökonomen liegen mit ihren Prognosen häufig daneben und haben unter anderem die Krise nicht kommen sehen.

Hüther: Weil sich einige von ihnen in Modellwelten aufhalten, die die Realität nicht erklären können. Da wird dann angenommen, dass die Finanzmärkte effizient sind. Historische oder kulturelle Einflussfaktoren auf das Verhalten der Akteure werden nicht berücksichtigt. Das ist eine Sackgasse, und wenn man in diese Richtung weitergeht, hat diese Forschung die Relevanz eines geisteswissenschaftlichen Orchideenfachs. Das betrifft allerdings nur einen Teil der Ökonomik.

Flassbeck: Aber einen ziemlich großen! Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, nur die Ökonomen zu kritisieren. Die Wissenschaft kann die Politik nur aufklären, wenn in den Ministerien die intellektuelle Kapazität vorhanden ist, die Dinge zu durchdringen. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass wir da in Deutschland Defizite haben.

Hüther: Zumindest ist heutzutage die Bereitschaft im politischen Betrieb eher gering, sich mit der komplizierten Materie intensiv zu befassen.

ZEIT: Und früher war das anders?

Hüther: Unter Karl Schiller ...

ZEIT: ... von 1966 bis 1972 Wirtschaftsminister ...

Hüther: ... hatten die Debatten das Niveau wirtschaftspolitischer Seminare.

ZEIT: Peer Steinbrück ist immerhin Volkswirt.

Flassbeck: Aber er zeigt nicht die Bereitschaft, sich mit den Themen eingehend zu beschäftigen.

ZEIT: Er fordert doch vieles von dem, was Sie auch fordern: höhere Löhne, Steuern für die Reichen.

Flassbeck: Auch er hat die entscheidende Frage nicht gestellt. Wir leben in einer Welt, in der alle Schulden abbauen wollen. Die Schulden des einen sind aber die Ersparnisse des anderen, und deshalb geht das nicht. Die Amerikaner thematisieren das im Kreis der G 20, in Deutschland findet diese Debatte nicht statt. Wenn die Kanzlerin überall auf der Welt die Wettbewerbsfähigkeit stärken will, dann ist das nicht nur ahnungsfrei, es widerspricht auch den elementaren Gesetzen der Logik.

ZEIT: Weshalb tut sie es dann?

Flassbeck: Weil wir in Deutschland keine wirtschaftspolitische Diskussionskultur haben. Die Leitmedien begreifen sich als Träger einer bestimmten Position und wollen das Publikum davon überzeugen, dass genau diese Position die richtige ist.

ZEIT: Und Sie selbst tun das nicht?

Flassbeck: Nur wenn ich im Recht bin. (lacht) Natürlich will ich andere überzeugen. Aber ich stehe häufig alleine. Es fehlt die Balance.

Hüther: Ich bin an dieser Stelle sogar bei Ihnen!

ZEIT: Sie wollen jetzt auch Schulden machen?

Hüther: Nein, wir haben in Deutschland wahrlich genug Schulden. Aber der Drang zur Vereinfachung führt zu Ergebnissen, die der Sache nicht gerecht werden. Da gibt es dann Leute, die sagen, es sollen überhaupt keine Schulden mehr gemacht werden. Das ist natürlich Unsinn. Es kommt auf das richtige Maß an.

ZEIT: Sie sagen, die Politiker müssen ökonomischer denken. Müssen nicht Ökonomen umgekehrt politischer denken, um Einfluss zu haben?

Hüther: Man darf es nicht übertreiben. Der Wissenschaftler muss die politischen Folgen seiner Vorschläge im Blick haben, aber er darf nicht politisch an die Sache herangehen. Die Antizipation des politischen Denkens führt zur Deformation des wissenschaftlichen Denkens.

Flassbeck: Und wenn einer Regierung nichts anderes einfällt, als ein Gutachten in Gesetze zu gießen, dann zeugt das nicht von mangelndem Einfluss.

ZEIT: Diese Gutachten erscheinen einmal im Jahr. Ist das angesichts der Beschleunigung der politischen Debatten überhaupt noch zeitgemäß?

Hüther: Ja! Da sitzen Wirtschaftsprofessoren mit den Mitarbeitern an einem Tisch und verständigen sich auf eine Linie. Das sind häufig Leute, die sich im akademischen Betrieb überhaupt nie rechtfertigen müssen. Diese Gelegenheit zum offenen Diskurs macht die Gutachten zu etwas Besonderem.

Zum Interview auf zeit.de

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