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(© Foto: Erwin Wodicka / wodicka@aon.at - Fotolia)
Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Interview 11. März 2013

"Die Krise war groß genug für Reformen"

Der Ökonom Michael Hüther spricht in der Süddeutschen Zeitung über die Agenda 2010 und wie sie Deutschland verändert hat. Sie sei der Beweis, dass Angebotspolitik wirklich funktioniert und hilft. Dem Argument, der Staat brauche heute mehr Geld und damit höhere Steuereinnahmen für soziale Projekte und Infrastruktur, widerspricht er vehement.

Herr Professor Hüther, wie haben Sie persönlich den Beginn der Agenda 2010 erlebt?

Mit Spannung. Ich war ja damals Chefvolkswirt bei einer Bank. Wir standen vor dem Fernseher zusammen und hörten diese Rede.

Wussten Sie gleich, hier wird Großes verkündet?

Ich habe die Dimension nicht gesehen, nein. Die Erwartungen waren ja groß gewesen. Dann kam der Kanzler sehr zurückgenommen rüber, es war wirklich keine Ruck-Rede. Ehrlich gesagt, hatte ich damals nicht den Eindruck, dass das größere wirtschaftliche und politische Folgen haben könnte. Der nüchterne Vortrag ist hinter dem Inhalt zurückgeblieben.

Welche Erwartungen hatten Sie denn?

Na ja, es war klar, etwas musste passieren. Die Arbeitslosigkeit schoss seit Jahren in die Höhe, die Sozialsysteme liefen finanziell aus dem Ruder. Der Koalitionsvertrag war eine Katastrophe, alle Reformansätze waren abgeblockt worden. Rot-Grün, das hatten die Akteure selbst angedeutet, musste dringend die Kurve kriegen.

Sie hatten ja vorgearbeitet, als früherer Generalsekretär des Sachverständigenrats, also sozusagen als Vordenker der 'Fünf Weisen'.

Ja, das gipfelte nach meiner Zeit beim Rat im Jahresgutachten 2002 mit 20 Punkten für mehr Beschäftigung, die waren deutlich umfassender. Also nicht nur Arbeitsmarkt, sondern auch Sozialsysteme. Abschläge bei der Rente, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, diese Dinge. Das kam auch. Insofern ist das Wort 'Agenda 2010' die Chiffre für ein breiteres Thema.

Und aus heutiger Sicht ein Erfolg?

Unbedingt. Das Sozialsystem wurde neu justiert. Mit dem Doppel 'Fordern und Fördern' wurde ein Gleichgewicht in der sozialen Absicherung des Einzelnen angestrebt. Das war ein Perspektivwechsel und hat erhebliche Veränderungen bewirkt. Wir haben heute viel mehr Arbeit und ein bezahlbares Sozialsystem. Viele machen sich gar nicht klar, was das wert ist.

Dann ist es wirklich so einfach, die Politik dreht an den Stellschrauben, schon entstehen die Jobs?

Man braucht schon auch das passende Umfeld. Das Jahrzehnt vor 2003 war geprägt durch die enormen Lasten infolge der Wiedervereinigung. Eine falsche, weil zu großzügige Lohnpolitik drückte auf die Arbeitskosten und minderte die Chance der Unternehmen, Jobs zu schaffen. Im Gegenteil verließen viele Deutschland, neue Investitionen wurden immer seltener. Seit 2000 gab es kaum noch Wachstum. Die Krise war groß genug für Reformen.

Und das änderte die Agenda 2010?

Bei der Beschäftigung unbedingt. Die Stärke unserer Industrie konnte sich am Arbeitsmarkt wieder positiv auswirken. Sie hat bei uns stabil einen Anteil von 25 Prozent an der Wirtschaft, in allen anderen Staaten ging der massiv runter: Das ist heute unser Erfolgsmodell weltweit. Man muss natürlich auch die lohnpolitische Zurückhaltung der Tarifpartner seit 1997 erwähnen. Aber ohne die Agenda 2010 wäre das alles so nicht gelungen.

Es gibt auch die starke These, dass das gar nicht an der Agenda liegt, sondern am Euro und der Demografie.

Das halte ich für zu kurz gesprungen. Klar hat der Euro unsere Exportchancen verbessert. Aber die Grundvoraussetzungen für den Erfolg der deutschen Wirtschaft kamen aus den Änderungen am Arbeitsmarkt und der Senkung der Arbeitskosten der Unternehmen. Die Investitionen lohnten sich wieder. Das hätte auch anders enden können.

Was ist für Sie der entscheidende Mechanismus, der hier gewirkt hat?

Der Mechanismus ist eigentlich ganz einfach. Durch das Zusammenlegen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Verkürzung der Bezugszeiten wurde das untere Auffangnetz neu justiert. Der Druck, Arbeit aufzunehmen, ist dadurch gestiegen. Das hat geholfen, mehr Jobs zu schaffen. Heute zahlt es sich aus. Aber vor allem darf auch die psychologische Bedeutung der Agenda für die Wirtschaftsdebatte nicht unterschätzt werden.

Was meinen Sie damit?

Es wurde doch der Mythos entzaubert, man könne die Arbeitslosigkeit nicht senken. Die These war, sie würde sogar steigen, wenn man die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes erhöht. Das ist nicht eingetreten, im Gegenteil: Die Beschäftigung hat einen gewaltigen Schub genommen.

Wirtschaftspolitik hat Einfluss, wie beruhigend.

Es wäre ja auch schlimm, wenn nicht! Allerdings gilt das im Guten wie im Schlechten, es gibt ja bekanntlich unterschiedliche Konzepte.

Sie meinen den ewigen Streit zwischen Angebots- und Nachfragepolitik, ob Reformen also bei den Bedingungen der Unternehmen ansetzen sollen oder beim Verbraucher, also auf der Nachfrageseite? Anders gesagt: Weniger Lohnerhöhung im Interesse der Unternehmen oder mehr Lohnerhöhungen im Interesse der Arbeitnehmer, Kunden und Verbraucher.

In Reinkultur gibt es diesen Streit ja nicht mehr. Alle wissen, dass aus beiden Richtungen etwas getan werden muss. Aber Sie haben recht, die einen betonen eher die Angebotsseite, die anderen die Nachfrageseite. Und da war es so, dass die Angebotspolitiker...

... die seit den 90er-Jahren der ökonomische Mainstream waren ...

...immer angegriffen wurden, sie hätten die falschen Rezepte. Die Agenda 2010 hat im Praxistest nachgewiesen, dass angebotsorientierte Reformen funktionieren. Wenn man also am elementaren Teil des Arbeitsmarkts ansetzt, wirkt das, es steigert die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft und schafft mehr Arbeitsplätze und mehr Wohlstand. Das ist der Praxisbeweis: Angebotspolitik führt im Ergebnis zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit.

Das glauben nun nicht alle. Im Gegenteil, die Zweifel wachsen wieder.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Alles was passiert ist, hätte gar nicht passieren dürfen, wenn die Kritiker von damals recht haben würden.

Gehen wir es durch: Die Kritiker sagen, Deutschland sei kälter und ungerechter geworden, Unternehmen betrieben über die prekären Arbeitsverhältnisse Lohndumping, die Schere zwischen Arm und Reich habe sich weiter geöffnet.

Das stimmt einfach nicht! Insgesamt sind seit 2005 2,6 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Wir haben heute so viel Erwerbstätige wie nie zuvor, fast 42 Millionen.

Wir haben aber auch immer mehr prekäre Jobs, also Leiharbeit, Teilzeitarbeit, schlecht bezahlte Arbeit.

Das stimmt - aber entgegen vielfacher Behauptung nicht zulasten der Vollzeitjobs. Sondern das sind neue Jobs, für Menschen, denen der Arbeitsmarkt vorher versperrt war. Für viele geht es nach dem Einstieg weiter. Über 40 Prozent aller Zeitarbeitsverhältnisse führen zu festen, vollwertigen Jobs. Dafür sollten wir dankbar sein und nicht lamentieren. Die Datenlage ist eindeutig. Es gibt keine größere Ungleichheit, sie hat im Gegenteil abgenommen. Auch die Mittelschicht schrumpft nicht

Eines ist aber sicher: dass so viel unsicher ist. Die Menschen sind einfach irritiert. Gewissheiten sind verloren gegangen.

Aber dafür bekommen mehr Menschen als früher eine Chance. Der Arbeitsmarkt hält seine Versprechen.

Tut er das wirklich? Viele sagen, von Schröders Paarung 'Fordern und Fördern' hat der Staat nur den ersten Teil eingelöst.

Diesen Vorwurf habe ich nie verstanden. Denn es ist dadurch möglich geworden, die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger erstmals in die Arbeitsförderung einzubeziehen. Sie haben heute ganz andere Hilfen als früher. Ich glaube, das Problem liegt woanders. Politisch wurde eine große Chance verpasst, die Agenda 2010 positiv zu besetzen. Das ist mir aber auch erst im Nachhinein klar geworden. Man hätte 2003 das neue, härtere System mit einem gesetzlichen allgemeinen Mindestlohn verknüpfen können. Die Aussage wäre gewesen: Ja, man fällt früher in die Grundsicherung von Hartz IV - aber der Staat zieht dazu stimmig eine Untergrenze für den Lohn.

Das ist interessant. Auch heute wird ja sehr über die Notwendigkeit eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns gestritten. Wirtschaftsvertreter sind meistens dagegen. Sie aber gehören zu den Befürwortern?

Nein, ich sage nur, dass damals eine Chance vertan wurde. Dieser aus dem neuen Arbeitsmarktsystem kommende Mindestlohn hätte bei 4,50 Euro gelegen und wäre bis heute vielleicht auf sechs Euro geklettert. Heute reden wir über einen Eingriff in die Tarifautonomie und über die Größenordnung von 8,50 Euro. Das kostet Jobs, gerade in den östlichen Bundesländern. Deshalb bin ich dagegen.

Brauchen wir nun eine Agenda 2020?

Nicht im groß angelegten Sinne der Agenda 2010. Die Anforderungen heute sind kleinteiliger. Verbesserungen hier und da bei der Vermittlung. Und vor allem wäre schon viel gewonnen, wenn die Errungenschaften der Agenda bewahrt blieben. Wenn ich mir die ersten Wahlaussagen der Parteien zur Bundestagswahl ansehe, ist das nicht gesichert.

Was meinen Sie konkret?

Es gibt ja Forderungen, wieder hinter die Rente mit 67 zurückzufallen. Das wäre fatal bei immer mehr Rentnern und immer weniger Jungen. Ebenso fatal wäre es, wenn es nach der Bundestagswahl Steuererhöhungen auf breiter Front gäbe. Im Gegenteil ist das Versprechen einer großen Steuerreform noch unerfüllt: einfacher, gerechter, niedriger.

Ach, damit locken Sie heute keinen Politiker mehr hinter dem Ofen hervor.

Schade eigentlich, oder? Dabei sehen wir krasse leistungsfeindliche Anreize. Den höchsten Anstieg der Steuersätze haben wir beim Facharbeiter, das kann doch nicht der Sinn der Sache sein. Aber statt hier einzugreifen, geht es um die Erhöhung von Spitzensteuersätzen, Reichensteuer, Vermögensteuer und -abgabe.

Es ist eine verbreitete Meinung, dass der Staat mehr Geld braucht.

Noch mehr? Wofür denn?

Für Bildung, Kinderbetreuung, Straßen, verfallende Infrastruktur...

Das stimmt auch alles - bis auf die Aussage, dass der Staat mehr Geld braucht. Die Steuereinnahmen waren nie höher. 25 Prozent der Steuerzahler erwirtschaften drei Viertel des Einkommensteueraufkommens, die Hälfte der Erwerbsfähigen zahlt gar keine Einkommensteuer. Nein, dieser Staat hat kein Steuer-, sondern ein Ausgabenproblem.

Es ist immer leichter, Ausgabenkürzungen allgemein zu fordern als konkret.

Oh, ich könnte Ihnen eine ganze Liste vorlegen - denken Sie an die Befunde des Rechnungshofs. Von der Misere bei öffentlichen Großprojekten - Stuttgart 21, Hamburger Elbphilharmonie, Berliner Großflughafen - ganz zu schweigen. Nein, ich bin nicht bereit, in dieses Loch noch mehr Geld reinzugeben.

Sondern?

Mutig wäre es, Studiengebühren flächendeckend einzuführen. Wir verzichten auf zwei Milliarden Euro im Jahr, weil wir nicht bereit sind, 500 Euro Studiengebühren pro Semester zu erheben, die man sozialverträglich mit Stipendien und Krediten organisieren könnte. Und glauben wir doch nicht, dass allgemeine Steuereinnahmen wirklich dahin fließen, wo Bedarf ist.

Jetzt werden Sie emotional...

Und ob! Wir reden hier über die Agenda von 2003. Ich darf an das Jahr 2005 erinnern, große Koalition unter Angela Merkel, CDU, CSU, SPD. Da gab es die größte Steuererhöhung aller Zeiten, von der Mehrwertsteuer bis zur Reichensteuer. Ist mit diesem Geld irgendetwas saniert worden, haben wir das Betreuungsproblem gelöst? Es hat noch nie funktioniert, dem Staat unkonditioniert mehr Geld zu geben. Kasse macht halt sinnlich.

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