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(© Foto: boschettophotography/iStock)
Michael Hüther im Deutschlandfunk Interview 29. März 2017

„Die Briten sind in dieser Situation schlechter gestellt”

Nach dem Brexit-Beschluss Großbritanniens müsse es jetzt darum gehen, die Interessen der Gemeinschaft in den Fokus zu rücken, sagte IW-Direktor Michael Hüther im Interview mit dem Deutschlandfunk. Ein Staat, der sich aus der Integration herausnehme, dürfe anschließend nicht von möglichen Sonderregelungen profitieren.

Großbritannien zeigt der EU die kalte Schulter, oder vielleicht auch umgekehrt. Großbritannien verlässt die europäische Rechtsprechung, die politischen Vorgaben damit auch der EU-Kommission. Großbritannien verlässt aber auch den Binnenmarkt, verlässt auch den freien Kapitalverkehr in Europa. Herr Hüther, sind Sie gelassen genug zu sagen, so what?

Na ja, so what sicherlich nicht. Es ist hier eine Frage aufgerufen, die wir in der Geschichte der europäischen Integration noch nicht zu beantworten hatten: Wie ist es wirklich, wenn sich jemand verabschiedet? Und wir sehen ja, dass es ein vor allen Dingen auch innerbritisches Problem ist, hier zu einem Ergebnis zu kommen. Das Land – das ist eben auch beschrieben worden – ist ja bei weitem nicht geeint. Es war ein knappes Votum. Und wenn man noch mal erinnert, wie es zu diesem Referendum gekommen ist, nämlich vor dem Hintergrund eines Zerwürfnisses in der konservativen Partei, das Cameron, der Premierminister glaubte, nur durch ein solches Referendum heilen zu können, dann sehen wir, es sind tiefe Probleme in Großbritannien. Es ist ja ein Spätstarter für die europäische Integration gewesen. Es wollte immer mitmachen in den 60er-Jahren, de Gaulle hat es verhindert, dann ist es 73 gelungen und dann schon schwierig gewesen mit vielen, vielen Sonderregelungen.

Gleichwohl: Es ist eine wichtige Ökonomie. Sie fehlt uns, ohne Frage, und die Frage ist jetzt, wie kriegt man hier einen klugen Vertrag hin, und zwar zwei Teile des Vertrages, die Auflösung, und wie gestaltet man die Zukunft. Aber klar ist auch: Europa muss erst mal die eigene Solidarität dann auch nach vorne stellen, derjenigen, die sich bekennen, dabei zu bleiben.

Was meinen Sie damit, die eigene Solidarität?

Na ja. Es gibt ja in Deutschland manchmal so Vorschläge, dass die Bundesrepublik hier so eine Rolle einnehmen könnte als Treuhänder der britischen Position bei den Verhandlungen, weil wir ein hohes ökonomisches Interesse haben an diesem Handel mit der Insel. Das ist sicherlich ökonomisch richtig. Aber wir können uns nicht als Deutschland, als dieses wichtige Volk in der Mitte Europas aus der europäischen Solidarität herausnehmen und quasi britische Positionen beziehen, sondern wir sind Teil dieses Europas. Dazu haben wir uns bekannt. Es gibt in Deutschland eine hohe, hohe Akzeptanz zur Europäischen Union in der Bevölkerung. Deswegen heißt es auch, wir müssen in diesem 27er-Europa dann auch ganz klar zusammenstehen und klar entwickeln, wie das geht.

Herr Hüther, um da noch mal nachzufragen. Das heißt, unter dem Strich, weil die Briten jetzt so entschieden haben, wie sie entschieden haben, muss Großbritannien mit Blick auf Europa schlechter dastehen als vorher?

Es wird schlechter dastehen. Die ökonomischen Analysen, die es dazu gibt, zeigen das auch. Das ist ein Verlust beim Pro-Kopf-Einkommen von etwa zehn Prozent, der sich in einer längeren Phase zeigt. Das hat sich nicht direkt gezeigt, aber wir sehen erste Signale und das wird auch so weitergehen. Ein Land, das sich aus der Integration rausnimmt, kann nicht hinterher besser dastehen mit Sonderregelungen durch die Europäische Union als die, die in der Europäischen Union sind. Die zerlegen den Klub.

Wenn es beiden Seiten helfen würde, warum kann es nicht besser dastehen?

Auch dann wäre es ja eine absurde Vorstellung, dass eine lose Anbindung besser ist für alle oder dann auch für die Union als eine klare Unterscheidung zwischen denen, die im Club sind, und denen, die nicht dabei sind. Sie würden auch jeden Club verlassen, bei dem Nicht-Clubmitglieder die gleichen oder ähnliche Vorteile hätten, ohne entsprechend zu zahlen. Da sind die Briten absolut naiv, absolut naiv!

Sich auf historische Aufgabe der Union besinnen

Aber hat der Club einen Selbstzweck?

Der Club hat einen hohen Selbstzweck, denn es heißt, Frieden und Freiheit auf diesem Kontinent zu sichern. Das wird gerne im Zuge dieser ökonomisch verengten Perspektive vergessen. Das ist die historische Aufgabe, in der wir in Europa stehen. Wir haben es in den letzten Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg geschafft, hier in dieser Union Frieden und Freiheit zu haben. Das ist immer wieder neu zu erringen und es ist einmal wieder unter Bedrohung. Aber das ist ein Eigenwert. Der Eigenwert steht nicht jetzt in den Verträgen an sich, sondern in dem, was es für uns als Menschen in Europa bedeutet. Wer nicht mehr dabei ist, muss dann auch sagen, dass das unterschiedlich für ihn ist. Er kann nicht austreten und klotzt trotzdem die gleiche Position wie vorher ein.

Wenn wir vielleicht die politische Dimension einmal ausklammern, inwieweit das überhaupt möglich ist, also die wirtschaftliche Dimension. Sie haben gesagt, das muss auch spürbar sein. Es muss Großbritannien mittelfristig, langfristig schlechter gehen. Oder Sie haben gesagt, es wird Großbritannien mittel- und langfristig schlechter gehen.

Es wird! – Es wird!

Das hatten wir ja schon in den vergangenen neun Monaten erwartet, ist aber nicht der Fall gewesen. Donald Trump und die Konsequenzen für die Ökonomie sind auch bislang jedenfalls nicht sichtbar. Ist das ein politisches Druckmittel, sind das politische Drohgebärden, im Vorfeld zu sagen, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, oder ist es aus Ihrer Sicht möglich, dass Großbritannien gut davonkommt?

Wenn Großbritannien bereit ist, solche Konzessionen zu machen wie Norwegen, oder sich auf eine Verhandlungsposition wie Kanada zu begeben, ein wirkliches dann auch Freihandelsabkommen, das auch Investitionssicherheit bietet, dann kann das durchaus eine Stabilisierung auch bedeuten. Aber klar ist doch: Ein Land, das sich herausnimmt aus einem Integrationsraum, hat weniger Wettbewerb, hat weniger Antrieb zur Innovation.

Wir haben das Problem, in Großbritannien gibt es nur noch einen Industrieanteil von zehn Prozent, die hohe Abhängigkeit vom Finanzmarkt, vom Finanzsektor in London, der aber massiv verliert. Die Banken haben natürlich erst mal zugewartet, aber wir sehen jetzt zunehmend die Bewegung weg aus London, weil es einfach nicht geht. Sie können nicht auf der Insel tätig sein, außerhalb der EU, um dann hier Finanzdienstleistungen zu erbringen. Es gibt ganze Segmente, die nach Europa auch aufsichtsrechtlich verlagert werden müssen, und das ist einfach jetzt eine Beschreibung der Dinge, die relativ augenscheinlich sind. Wir sehen ja beim Handel schon im zweiten Halbjahr 2016 eine deutliche Eintrübung. Das ist insgesamt überdeckt bei einer allgemein sich stabilisierenden wirtschaftlichen Lage. Das darf man nicht vergessen. Aber die Strukturen werden sich unterschiedlich entwickeln und das wird einfach auch Preise haben, und die Briten sind in dieser Situation schlechter gestellt, weil sie von der Handelsposition, von ihrer Wirtschaftsstruktur einfach Nachteile haben.

"Es geht nicht um Bestrafung aus Prinzip"

Die Frage ist ja auch, mit welcher Haltung gehen die Europäer in diese Verhandlungen. Wir haben hier in der Redaktion noch Meldungen beispielsweise vom Oktober 2016 gefunden, wonach auch große deutsche Wirtschaftsverbände wie beispielsweise der Deutsche Industrie- und Handelskammertag oder auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks gesagt haben, wir brauchen den harten Schnitt. Warum sollten wir Interesse daran haben, den harten Schnitt zu machen, wenn wir kein Interesse daran haben – das ist jetzt meine Frage -, Großbritannien einfach nur aus Prinzip zu bestrafen?

Es geht nicht um Bestrafung aus Prinzip. Nur man muss einfach sehen: Großbritannien hat die Frage aufgeworfen, nicht die Europäische Union. Und die Europäische Union wird sich natürlich dadurch auch verändern. Insofern ist das Referendum britisch verursacht, aber natürlich mit enormen Konsequenzen für Europa. Es gibt jetzt das White Paper der EU-Kommission, es gibt eine Diskussion in Europa darum, wie wir weiter Themen vertiefen, beispielsweise bei der Verteidigung, wo Großbritannien sich immer verwehrt hat. Da gibt es auch neue Potenziale, die Europa wirklich verändern. In den Verhandlungen geht es nicht um Abstrafen, sondern darum, dass dieser Club auch weiter bei sich bleiben kann, denn wenn wir Trittbrettfahrer-Verhalten attraktiv machen, weil man durch eine Nichtzahlerposition außerhalb sich einen schlanken Fuß macht, das geht nicht. Es geht nicht um Abstrafen, aber es geht um klares Deutlichmachen der Unterschiede, wenn man draußen ist, als wenn man drinnen ist.

Aber es wäre trotzdem so, Herr Hüther, Sie als Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, dass Sie sagen, wir müssen die wirtschaftlichen Nachteile für beide Seiten so klein wie möglich halten.

Wir müssen sie so klein wie möglich halten. Es ist auch keine letztlich emotionale Frage. Es geht, noch einmal gesagt, nicht um Bestrafen. Es geht aber um die langfristige Stabilität der Europäischen Union, der europäischen Integration, mit der Frage, wie kann man durch ein kluges Freihandelsabkommen beispielsweise in der Qualität von CETA Großbritannien an diesen Binnenmarkt binden. Aber wir dürfen nicht gefährden – und das ist die politisch rote Linie – das, was in Europa zusammenhält, und es war ja auch motivierend zu sehen, dass nach dem Brexit die Menschen sich in Europa verstärkt wieder für Europa auch engagieren.

Wir haben jetzt diese "Pulse of Europe"-Bewegung und auf einmal sehen wir, durch diese Frage, die die Briten aufgeworfen haben, sind die anderen nicht auf dem gleichen Trip, sondern sie sehen, dass Europa hohen Wert hat. Und ich kann mir vorstellen, die Verhandlungen werden lange dauern. Warten Sie mal ab. Das ist in zwei Jahren nicht getan. Ob die Briten das dann immer noch so sehen und bei den Zerwürfnissen im Land, wie die Schotten sich noch aufstellen, bin ich gar nicht so sicher, ob man heute sagen kann, der Brexit kommt in jedem Fall.

Keine Börsenfusion London-Frankfurt

Herr Hüther, jetzt haben wir nicht mehr viel Zeit, muss ich zugeben. Ich wollte Sie das dennoch fragen, weil wir das beide in den Nachrichten auch schon gehört haben. Die EU-Kommission untersagt die geplante Börsenfusion von Frankfurt und London. Jetzt losgelöst davon, ob das irgendwie in unseren jetzigen Kontext passt: War damit zu rechnen, oder war es doch eine Überraschung in der Konsequenz?

In der Deutlichkeit und auch in den Begründungen – die Begründung bezieht sich auf Wettbewerbseinschränkungen -, da denkt die europäische Kommission wirklich zu klein. Das muss man im Weltmaßstab sehen. Es geht um Weltfinanzplätze und Weltbörsenplätze und die Fusion Frankfurt-London hatte eine hohe Ratio für sich aus der Sicht der Kapitalmarktentwicklung. Es war nicht überzeugend, sicherlich für die meisten Beobachter, den Rechtssitz nach London zu legen, und der Brexit ist hier nicht in der Rechnung bei den Fusionsplanern gewesen. Das muss man einfach sehen. Jetzt gibt es nun mal diese klare Absage. Es war aber vorher schon klar, als die Londoner vor wenigen Wochen gesagt haben, sie sehen eigentlich keine Perspektive dafür. Dann müssen wir uns anders orientieren. Aber die Begründung der EU-Kommission ist jetzt an der Stelle nicht so ganz überzeugend. Da muss man in globalen Maßstäben denken und wir brauchen einen entsprechenden Finanzplatz.

Zum Interview auf deutschlandfunk.de.

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