Der Bundestag macht Sommerpause – und die Große Koalition blickt auf eine Reihe von umstrittenen Gesetzesänderungen zurück. Über die Rente mit 63, den Mindestlohn und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sprach AKTIV mit Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.
„Balsam auf verwundete Seelen“
Herr Hüther, Frau Nahles erreicht ihre Ziele schnell. Sind Sie beeindruckt?
Das Tempo der Arbeitsministerin zeigt: Wenn man etwas wirklich will, geht es politisch auch. Dann lässt man auch mal verfassungsrechtliche Zweifel unter den Tisch fallen, wie bei der Rente mit 63, oder Umsetzungsprobleme, wie beim Mindestlohn.
Wenn diese Politik doch völlig falsch ist: Warum zieht der Koalitionspartner dann mit?
Diese Große Koalition ist ein ständiger Versuch, ein Machtgleichgewicht zwischen den beteiligten Parteien herzustellen. Die SPD hat noch die vorherige Große Koalition von 2005 bis 2009 in schlechter Erinnerung. Obwohl sie diesmal viel schwächer ist, achtet sie besonders darauf, ihre Ziele eins zu eins durchzusetzen.
Und die Union?
Sie tritt dem nicht entgegen, weil sie eine andere politische Konstellation verhindern will, nämlich Rot-Rot-Grün. Dahinter steckt auch die Wahrnehmung, dass 80 Prozent der Deutschen das, was gerade politisch geschieht, irgendwie wollen.
Es geht Deutschland ja auch objektiv gut. Warum also nicht mal was verteilen?
Ja klar, das sehen viele in Politik und Gesellschaft so: Alle haben sich gemeinsam angestrengt, wie mit den Hartz-Reformen im Rahmen der Agenda 2010. Jetzt bekommt man dafür etwas zurück. Ein ebenso schlichtes wie falsches Argument.
Beschäftigungsrekord und hohe Exporte sind also kein Grund, Ältere und Geringverdiener besserzustellen?
Es haben doch alle etwas zurückbekommen, durch wirtschaftlichen Aufschwung und steigende Reallöhne. Die Rente mit 63 dagegen ist nur Balsam auf die Seele verwundeter SPD-Akteure. Sie richtet sich an Arbeitnehmer, die überdurchschnittlich gut verdient haben und 45 Beitragsjahre verbuchen konnten. Und die Mütterrente wurde von der Frauenunion in der CDU durchgedrückt. Die Folge ist, dass der Rentenbeitragssatz nicht wie geplant zum Jahreswechsel um 0,6 Prozentpunkte gesenkt werden konnte. Dadurch wiederum bleibt den Arbeitnehmern weniger vom Lohn.
Die Arbeitskosten, also Löhne und Sozialversicherungsbeiträge, sind im vergangenen Jahr kaum stärker als die Inflationsrate gestiegen. Wo ist also das Problem?
Um diese Entwicklung zu bewerten, müssen wir einen längeren Zeitraum betrachten. Dann sehen wir, dass die Arbeitskosten in den Jahren der Krise zwar gesunken sind, weil die Tarifparteien auf Lohnerhöhungen verzichtet haben oder Sonderzahlungen gekürzt wurden. Die Produktivität aber ist weitaus stärker zurückgegangen. Dieser Verlust wurde allein von den Unternehmen getragen, vielen steckt das noch in den Kleidern.
Doch jetzt wird gut verdient …
Weil wir an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen haben, nicht zuletzt durch Zeitarbeit. Diese Flexibilität darf Deutschland nicht aufs Spiel setzen.
Das sieht die Arbeitsministerin ja wohl anders. Was ist so schlimm an ihrem Plan, dass Zeitarbeiter nach dem neunten Monat am gleichen Arbeitsplatz genauso viel verdienen sollen wie die Stammbelegschaft?
Frau Nahles konzentriert sich da auf ein Problem, das eigentlich keins ist. Das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit zeigt in einer aktuellen Studie, dass vor allem hoch qualifizierte Zeitarbeiter wie Akademiker länger als neun Monate im gleichen Betrieb sind. Geringqualifizierte betrifft das kaum. Für sie ist die Zeitarbeit aber eine Brücke in dauerhafte Beschäftigung.
Aber Sie müssen doch zugeben: Der Arbeitsmarkt brummt derzeit.
Die Auswirkungen der derzeitigen Entscheidungen, vor allem für den Mindestlohn, werden wir erst in den nächsten Jahren sehen. Doch es gibt schon jetzt Hinweise, dass es auf dem Arbeitsmarkt nicht so brummend weitergeht, wie manche glauben.
Macht die Große Koalition denn alles falsch? Jetzt loben Sie doch mal.
Bei der Energiewende immerhin versucht man, die Kostensteigerung zu bremsen. Außerdem wollen sich Bund und Länder in Zukunft gemeinsam für die Bildung finanziell engagieren. Auch das ist positiv.
Zum Interview auf der Website der Wirtschaftszeitung AKTIV
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