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Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 4. Oktober 2012

Verantwortung zeigen

Das Alter darf nicht nur als Zeit der besonderen Sorge und des besonderen Schutzbedarfs verstanden werden. IW-Direktor Michael Hüther formuliert in der Süddeutschen Zeitung sieben Thesen zur Demografiepolitik.

Die Bundesregierung lädt an diesem 4. Oktober zum ersten Demografiegipfel, nachdem sie im April ihre Strategie 'Jedes Alter zählt' vorgestellt hatte. Bei aller Verspätung ist es ein großer Fortschritt, weil der demografische Wandel politisch in einen Gesamtansatz überführt und positiv gewürdigt wird. Der Weg zu einer Gesellschaft mit weniger Menschen bei gleichzeitig längerem Leben und 'bunterer' Zusammensetzung bietet ebenso Chancen wie Herausforderungen. Bei schlüssigem und umfassendem Handeln sind die Chancen zu mobilisieren und die Herausforderungen zu bewältigen. Dafür bedarf es einer Demografiepolitik, die in einem eigenen Ministerium ressortiert, themenübergreifend angelegt ist und alle Ebenen des Bundesstaates einbezieht. Was ist konzeptionell zu beachten?

Erstens: Demografiepolitik muss von der Lebenslaufperspektive des einzelnen Menschen ausgehen. Dafür sollte der Begriff 'Alter' durch den des 'Alterns' ersetzt werden (6. Altenbericht). Der Potenzialdiskurs des Alterns bestärkt das individuelle Vertrauen und fordert die individuelle Verantwortung. Selbstsorge und Mitsorge für andere sowie für den öffentlichen Raum setzen Vertrauen in die eigenen Kräfte genauso wie Vertrauen in die Institutionen voraus. Staat, Gesellschaft und Wirtschaft bieten Koordinationsversprechen für unterschiedliche Interessen, Perspektiven und Möglichkeiten. Diese müssen glaubwürdig sein, damit der Einzelne Vertrauen ausbilden kann. Dann sind seine Rechte durch Pflichten gespiegelt. So ist die Pflicht zur Bildung die faire Gegenbuchung zum Angebot an Bildung. Jeder ist verpflichtet 'durch eine selbstverantwortliche Lebensführung Potenziale auszubilden, zu erhalten und für sich selbst und andere zu nutzen' (6. Altenbericht). Demografiepolitik muss die legitimen - weil fairen - Zumutungen der Gesellschaft an den Einzelnen deutlich machen. Das erfordert Mut, wie bereits die Rente mit 67 zeigt.

Zweitens: Der Mensch vollzieht im individuellen Lebensverlauf eine Entwicklung, die ihn zur Selbstsorge befähigt und die Mitverantwortung für die Gesellschaft ermöglicht. Die Ausbildung von Mitverantwortung folgt neben intrinsischer Motivation besonders den Notwendigkeiten, den Möglichkeiten und den Erfahrungen der Kooperation. Deshalb ist der Staat gerade dort zu besonderer Obacht aufgefordert, wo er durch die Zuweisung von Ressourcen und die Gestaltung sozialer Sicherung vermeidbar die Anreize zur individuellen Verantwortung mindert. Denn insofern man die freiwillige Kooperation über Märkte schwächt, wird zugleich die Möglichkeit eingeschränkt, durch die Kooperationserfahrung Mitverantwortung zu entwickeln und zu stärken. Mitverantwortung entsteht gerade nicht durch die Schwächung der Selbstverantwortung über paternalistische staatliche Systeme.

Drittens: Unter den Bedingungen des langen Lebens nimmt die Heterogenität der Lebensformen und Lebensmöglichkeiten zu. Anfängliche Differenzierungen reifen zu beachtlichen Unterschieden. Die Heterogenität des Alters erfordert frühe sowie konsequente Investitionen in Bildung und Gesundheit, ebenso differenzierte und umfassende Angebote im hohen Alter. Dessen Verletzlichkeit verlangt eine besondere Würdigung. Doch insgesamt ist Alter nicht primär als ein Lebensabschnitt der besonderen Sorge und des besonderen Schutzbedarfs zu begreifen. Rückte dieser Aspekt einseitig in den Vordergrund, dann wäre die Debatte um Entwicklung und Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit beim Altern kaum konstruktiv zu führen. Die Fachkräfteoffensive von Regierung und Verbänden spricht konsequent eine positive Sprache.

Viertens: Das längere Leben ermöglicht dem Einzelnen andere Zeitstrukturen, die nicht nur die besondere Ausprägung der Lebensphasen begünstigen, sondern im Lebensverlauf das Lernen, das Arbeiten, das bürgerschaftliche Engagement sowie den Rückzug in das kontemplativ Private immer wieder miteinander und abwechselnd in Berührung bringt. Demografiepolitik muss deshalb neue Formen der Lebensarbeitszeitorganisation ermöglichen, die sich bislang allenfalls in Schlagworten - wie dem vom lebenslangen Lernen - erschöpfen. Ebenso erfordert dies anders gestaltete Zeitstrukturen für die Familie wie für die innerfamiliale Arbeitsteilung. Der faire und zeitgemäße Ausgleich von Familie und Beruf ist deshalb zentral.

Fünftens: Vorsorgende Demografiepolitik muss angesichts von Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft nachhaltig Wachstumsdynamik mobilisieren, um den Handlungsspielraum künftiger Generationen so groß wie möglich zu machen. Dies entspricht einer allgemeinen Versicherung gegen Unvorhersehbares. Sodann geht es darum, den demografischen Trend zu beeinflussen. Natürlich gerät man stärker in Konflikte, wenn eine Bevölkerungspolitik konzipiert und eine Politik der gezielten Zuwanderung über das Erreichte hinaus entwickelt wird. Aber auch die Anpassung an den demografischen Wandel ist nicht konfliktfrei möglich, wie die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, der Streit um das kontraproduktive Betreuungsgeld, aber auch die Anerkennung von Abschlüssen bereits zugewanderter Personen zeigen. Der Vorzug expliziter Demografiepolitik liegt darin, traditionelle Gegensätze durch einen konsistenten Gesamtansatz einhegen zu können.

Sechstens: Die Gesellschaft des längeren Lebens fordert nicht prinzipiell mehr Daseinsvorsorge, wohl aber eine andere, denn der beherrschte und der effektive Lebensraum können im Prozess des Alterns in besonderer Weise divergieren. Zudem muss geklärt werden, wie über die Generationen hinweg die Daseinsvorsorge bei prinzipiell diskriminierungsfreier Bewertung der Generationen zu gestalten ist. Des-halb muss die Flexibilität der öffentlichen Ausgaben ('fiscal democracy') spürbar vergrößert werden, indem Zukunftslasten reduziert werden. Zudem gewinnt das im Grundgesetz verankerte Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet eine besondere Bedeutung (Artikel 72 Absatz 2 GG). Demografiepolitik muss allein deshalb sowohl zentral als auch dezentral verankert sein.

Siebtens: Mit Blick auf die bei längerem Leben zunehmend heterogenen Lebensverhältnisse gewinnt das bürgerschaftliche Engagement als Teil der Demografiepolitik eine besondere Bedeutung. Denn die notwendige Differenzierung der Unterstützung, der Förderung, aber auch der Möglichkeit zu fordern kann vom Staat allein nicht im gebotenen Maß geleistet werden. Das bürgerschaftliche Engagement eröffnet zusätzliche und effektive Räume. Moderne, differenzierte Gesellschaften haben es mit einer 'Pluralität von Gemeinwohlakteuren' zu tun. Insofern sollte Demografiepolitik sehr bewusst die drei Handlungsbereiche individuelle Verantwortung, staatliche Vorleistung und bürgerschaftliches Engagement im Zusammenspiel adressieren.

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