Flüchtlinge kommen aus Angst um ihr Leben und nicht, um unsere Probleme zu lösen. Sie haben das Recht, ihre Identität zu bewahren, schreibt IW-Direktor Michael Hüther im Tagesspiegel.
Keine Integrationspflicht für Flüchtlinge
Krisen führen zu Debatten: Der große Zustrom an Flüchtlingen, die überragende Willkommenskultur im vergangenen Jahr und die in den letzten Monaten zunehmend öffentlich artikulierten Zweifel an dem politischen Mantra "Wir schaffen das" befördern Vorschläge, die auf den ersten Blick einleuchten mögen - doch einer näheren Betrachtung nicht standhalten. Dazu gehört die Forderung nach einer Integrationspflicht für Flüchtlinge, wie sie die Bundeskanzlerin im Drei-Länder-Wahlkampf vorgetragen hat.
Die Hoffnung auf erfolgreiche Integration als Schlüssel zur Bewältigung der Flüchtlingskrise und die Zweifel am einfachen Gelingen legen diese Idee nahe. Doch was ist damit gemeint, was wird nicht schon im Aufenthaltsgesetz für Zuwanderer gefordert? Unstrittig sollte sein, dass die Verfassung und die Gesetze des Aufenthaltslandes zu achten sind und Sprache erlernt wird. Das gilt überall auf der Welt, es muss nicht besonders betont werden. Außer man will - zu Recht - zum Ausdruck bringen, dass die früher oft zu beobachtende Kuschelhaltung im Zeichen von Multi-Kulti vorbei ist.
Im Kern geht es um ein passgenaues gesellschaftlich-kulturelles Einfügen der Geflüchteten, das letztlich zur Assimilation führen soll. Der Flüchtling als musterhafter Deutscher. Doch ist das die gebotene Forderung an Flüchtlinge? Wohl nur dann, wenn es den Menschen um Einwanderung geht, die irgendwann mit der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft ihre formale Vollendung findet. Doch Flucht beginnt nicht mit dem Wunsch der Einwanderung, noch nicht einmal mit dem Gedanken an Arbeitsmigration, sondern mit der Hoffnung zu überleben und unter menschenwürdigen Umständen zu leben.
Flüchtlinge kommen nicht, um unsere Probleme zu lösen, und sie haben das Recht, ihre Identität zu wahren. Das Angebot zur Integration über Bildung und Beschäftigung, das verantwortungsvollerweise in Deutschland seit letzten Herbst den Flüchtlingen gemacht wird, bringt in seiner Freiwilligkeit einen humanitären Impetus zum Ausdruck. Es geht um die Chance auf ein gelingendes Leben trotz Flucht vor Gewalt und Krieg. Hannah Arendt hat 1943 in ihrem Aufsatz "Wir Flüchtlinge" argumentiert, dass dem Verlust der Heimat und der Sprache nicht der Verlust der Identität folgen dürfe. Flüchtlinge hätten ihr geschundenes Selbstbewusstsein neu zu entwickeln, das begrenze den Raum zur Assimilation.
Das stimmt nachdenklich, denn Hannah Arendt macht deutlich, dass alles so einfach nicht ist, wie es manchen scheint. Mit einer Pflicht zur Integration mag man einige Kritiker der Flüchtlingspolitik beruhigen, doch als praktisches Konzept trägt es nicht, sondern führt in die Irre. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass jede gehaltvolle Definition der Integrationsziele eine überwältigende gesellschaftliche Klarheit über die dabei bedeutsamen Werte verlangt. Diese Debatte gehört in den Kontext eines neuen und vor allem systematischen Einwanderungsrechts, in dem die verschiedenen Zugangswege nach Deutschland und in die Gesellschaft nicht nur geregelt werden, sondern idealerweise zudem eine normative Prägung erfahren. Wer die Pflicht zur Integration fordert, der sollte das Projekt eines neuen Einwanderungrechts unterstützen.
Offene Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Fähigkeit zum zivilen Gespräch im öffentlichen Raum besitzen, um Konflikte auszuhandeln, Interessen abzustimmen, gemeinsame Lösungen zu finden sowie neue Mitglieder zu begrüßen und anzunehmen. In diesem öffentlichen Raum können unterschiedlichste Identitäten aufeinandertreffen, was solange kein Problem ist, wie alle die Bereitschaft haben, die anderen durch deren Augen zu sehen. Gesinnungsethik - auch im Gewand einer Integrationspflicht für Flüchtlinge - führt zur "Tyrannei der Werte". Offene Gesellschaften setzen hingegen auf Verantwortungsethik, auf zivilen Umgang und verlässliche Verfahren.
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