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(© Foto: Sean Gallup/iStock)
Michael Hüther in der Zeit Gastbeitrag 23. Mai 2016

Im Hamsterrad der Sozialreparatur

Viele in der SPD sind in einer Sozialstaatsromantik der 1970er Jahre gefangen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther. Sie sind schuld an der Misere der Partei. Nicht die Agenda 2010.

Der SPD geht es schlecht, so schlecht wie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Die Suche nach einem Ausweg ist für viele in der Partei und selbst in der Parteiführung mit einem selbstverständlichen Narrativ verbunden: Ohne die Agenda 2010 wäre das nicht passiert. Ohne diesen Fehltritt einer neoliberalen Reformorgie - eingeflüstert von Ökonomen und Interessenvertretern - stünde die SPD unverändert mit ihrem sozialpolitischen Profil in hohem Ansehen und hoch in der Wählergunst. Und dann schließt sich die verstört daherkommende Frage an: Wie konnte uns Sozialdemokratien das passieren?

Diese trostspendende Erzählung beruht auf zwei Überlegungen: Einerseits liegt die Einschätzung zugrunde, dass die Agendapolitik aus einem irrigen Befund abgeleitet wurde und im Ergebnis wirkungslos war; es handele sich demnach um eine sachlich falsche Politik. Andererseits scheint unabhängig vom tatsächlichen Erfolg oder Misserfolg die These auf, dass sich eine solche Politik für eine sozialdemokratische Partei bereits im Grundsatz verbietet; es handele sich um einen ideologischen Fehltritt.

Während das erste Argument einen Verstoß gegen die Verantwortungsethik markiert, verweist das zweite Argument auf einen Verstoß gegen die Gesinnungsethik. Parteien bewegen sich unvermeidbar in dem Dilemma beider Orientierungen. Denn so sehr sie in unserer demokratischen Ordnung an der Willensbildung teilhaben und dafür den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Verantwortung übernehmen, um deren Lebensbedingungen tatsächlich und nicht hypothetisch zu verbessern, so sehr ziehen sie ihre Besonderheiten aus einer Wertebasis, die sich aus historisch geronnenen Erfahrungen ableiten.

Schauen wir zunächst auf die tatsächlichen Effekte der Agenda 2010. Einem so umfassenden Reformpaket, zu dem neben den Arbeitsmarktreformen auch die Veränderungen in der Altersvorsorge (Riester-Rente, nachgelagerte Besteuerung) zu zählen sind, können in einem komplexen Umfeld aus Institutionen und Regeln nicht eineindeutig bestimmte gesamtwirtschaftliche Folgen zugerechnet werden. In ökonomischen Studien wird in den Arbeitsmarktreformen ein wesentlicher Beitrag zum Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit erkannt. Freilich wirkten die Reformen zusammen mit den erfolgreichen Bemühungen der Unternehmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit - neue Standorte, neue Prozesse, neue Produkte - sowie der seit 1997 beschäftigungsorientierten Lohnpolitik.

Aber auffällig ist schon, dass ab dem Jahr 2005 eine bis heute ungebrochene Beschäftigungsdynamik - und zwar mehr Beschäftigte bei steigendem Arbeitsvolumen - einsetzte. Dabei blieb der Anteil sozialversicherungspflichtiger Jobs über 90 Prozent; es nahm die Bedeutung des Niedriglohnsektors nicht weiter zu, der Anteil befristeter Jobs stagnierte zunächst und ging dann leicht zurück. Das sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsverhältnis ist weiterhin die Normalität. Einkommensmäßig schrumpft die Mittelschicht seit 2005 nicht mehr. Die Menschen in West wie Ost des Landes machen sich derzeit so wenig Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Situation sowie die persönliche wirtschaftliche Lage wie seit über 20 Jahren nicht. Selbst bei den durch Armut gefährdeten Menschen sorgen sich immerhin nur noch 33 Prozent statt knapp 50 Prozent um ihre wirtschaftlichen Verhältnisse.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Agenda 2010 seinerzeit mental eine Blockade zu mehr wirtschaftlicher Dynamik aufhob, war es doch der erste umfassende Politikansatz seit Langem. Vorangegangen war bis zum Frühjahr 2005 eine fast über fünf Jahre gehende Stagnation mit steigender Arbeitslosigkeit und sich zunehmend vermittelnder politischer Ratlosigkeit. Kurzum: Auch wenn die Agendapolitik nicht alles erklärt und in ihrer Wirkung von anderen begünstigenden Faktoren abhing, so stellt sie doch den entscheidenden politischen Impuls dar.

Ihrer Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ist die von SPD maßgeblich getragene Regierung von Gerhard Schröder nachgekommen. Deutschland stünde - so meine These angesichts der Befunde - heute ohne Agenda 2010 spürbar schlechter dar. Die Wirtschaftsentwicklung wäre mit einem deutlich schwächeren Aufbau neuer Arbeitsplätze und geringeren Abbau der Arbeitslosigkeit einhergegangen.

Doch die verantwortungsethisch gelungene Politik hat sich in weiten Teilen der SPD gesinnungsethisch nicht erschlossen. Im Grunde hat die Partei nach dem Abgang von Schröder die Vaterschaft der Agendapolitik nicht angenommen. Die positive Beschäftigungsentwicklung aus diesem Grunde kann und will sie sich nicht zurechnen. Wer selbst aus ideologischen Zweifeln an der eigenen Tat verzweifelt, der kann auch andere nicht davon überzeugen. Messlatte für die in der SPD vorherrschende Gerechtigkeitsidee ist die Sozialstaatstechnologie der 1970er Jahre. Darauf bezogen ist die Agenda 2010 ein Verrat, denn sie stellte das Fordern und Fördern in den Mittelpunkt statt nur das Fördern, was freilich oft nicht mehr als eine Alimentierung des Nichtstuns war.

Die Tatsache, dass durch die Reformen etwa fünf bis sechs Milliarden Euro zusätzlich mobilisiert wurden, wird parteiintern ebenso konsequent ignoriert wie die Einbeziehung von 1,5 Millionen erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern in die Arbeitsförderung und die zugleich mit der Riester-Reform großzügiger gestaltete Grundsicherung im Alter. All dies ist nicht anschlussfähig an jene Debatten der 1970er Jahre, auf die sehnsuchtsvoll - mit Unterstützung intellektueller Wasserträger - in der SPD zurückgeblickt wird. Wenn in der SPD heute von Modernität oder Modernisierung gesprochen wird, dann geht es meist um eine Rückabwicklung der Reformen, was angesichts der beschreibbaren Effekte als Rückschritt zu bewerten wäre.

Der Tunnelblick einer nicht mehr zeitgemäßen Sozialpolitik führt dazu, dass ein vermeintlich dominierendes Prekariat zum Orientierungsanker einer Programmatik wird, die den Einzelnen zwangsläufig zum Opfer macht, was die freiheitsbeschränkende Wirkung einer umfassenden Fürsorge akzeptabel werden lässt. Damit geht verloren, was die SPD historisch geprägt hat und was der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel auf der "Wertekonferenz Gerechtigkeit" seiner Partei am 9. Mai so formulierte: "Kampf um Respekt, um Augenhöhe, um Emanzipation: Keiner Herr, keiner Knecht. Es ging immer um eine Gesellschaft der Freien und Gleichen.

Hat das nicht die sozialdemokratische Agendapolitik entscheidend mitbewirkt? Die Emanzipationschancen werden durch mehr Beschäftigung größer; der umfassendere Vermögensschutz bei der Grundsicherung im Alter sichert auch die Würde. Jedenfalls beginnt die Mündigkeit des Einzelnen, durch die die Freiheit nachhaltig erlebbar wird, genau hier. So kann der Ratsschluss nicht sein, dass die SPD heute besser dran wäre, hätte es die Agenda 2010 nicht gegeben.

Neben der Anerkennung der Vaterschaft wäre aber noch etwas geboten gewesen: Die Entwicklung einer Sozialpolitik, die an den konkreten Gestaltungsproblemen - wie die Weiterentwicklung und Koordination der Kinder- und Jugendhilfe im bundesstaatlichen Geflecht - ansetzt, anstatt den empirisch nicht zu begründenden Generalverriss unseres Sozialstaates lustvoll zu bedienen und die Vergangenheit zu verklären. Stattdessen kam es so, wie Sigmar Gabriel es formulierte: "Angesichts der neuen sozialen Frage wirkt die SPD zu sehr als eine emotional ermüdete Partei im Hamsterrad der Sozialreparatur."

Zum Artikel auf zeit.de

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