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(© Foto: Getty Images)
Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 15. Dezember 2020

Ethisches Dilemma der Pandemie

Die Coronakrise wirft schwierige Fragen von Moral und Gerechtigkeit auf. Die Ökonomie kann bei der Lösung helfen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.

Die Neuinfektionszahlen halten sich auch in Deutschland auf einem zu hohen Niveau. Und dies trotz erheblicher Einschränkungen des öffentlichen Lebens seit fast sechs Wochen. Der politische Instrumentenkasten zur Eindämmung der Pandemie, momentan primär auf dem Infektionsschutzgesetz basierend, bedient sich im Ordnungsrecht und mit darauf beruhenden Geldstrafen. Das dürfte kurzfristig nicht anders möglich sein und ist grundsätzlich angemessen, sofern es um die Vermeidung eindeutig definierter und zurechenbarer Schäden geht.

Die gleichwohl eher groben und ungleich wirkenden ordnungsrechtlichen Maßnahmen gegen die Pandemie finden ihre Entsprechung in einer finanziellen Kompensation; staatlicherseits großzügig als November- und Dezemberhilfen angekündigt. Mit zunehmender Dauer des Lockdowns drängt sich der Wunsch auf, nicht nur einfache, sondern zugleich treffsichere und anreizorientierte Instrumente einzusetzen.  Das entspräche nicht zuletzt den verfassungsrechtlichen Grundsätzen von Gleichheit und Verhältnismäßigkeit.

Die Erstattung von bis zu 75 Prozent des Vorjahresumsatzes hat wegen sehr unterschiedlicher Kostenstrukturen - stark schwankender Fixkostenanteile - in den derzeit betroffenen Branchen zur Folge, dass strukturell in die Wettbewerbsverhältnisse eingegriffen wird. Besser im Sinne der drei Kriterien "einfach, treffsicher, anreizorientiert" wäre eine Erstattung der Fixkosten zuzüglich eines Risikozuschlags von 20 Prozent, und zwar in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad, sodass bei kompletter Schließung des Geschäfts maximal 120 Prozent der Fixkosten erstattet würden. Dieses Instrument wäre ähnlich der Kurzarbeiterregelung auch künftig nutzbar.

Neben der ökonomisch angemessenen Strategie stellt der Umgang mit jenen, die ihre Mitmenschen mutwillig gefährden, eine besondere Herausforderung dar. Zwar kann niemand bei aller Vorsicht ausschließen, ein Infektionsrisiko für andere Menschen darzustellen. Doch diese gebotene Obacht wird von einigen Personen willentlich, von manchen sogar böswillig unterlassen. Diese "Querdenker" treffen sich zwar real, doch sie sind - so zeigen erste soziologische Analysen - in einer surrealen Welt selbstgezimmerter Gewissheiten zu Hause. Man kann diesem Verhalten mit dem Ordnungsrecht nicht beikommen, mit moralischer Überzeugungsarbeit und allwissender Gegenrede ebenso wenig.

Das Bedenkliche an der Querdenker-Position ist nicht der Anspruch, unzweifelhaft recht zu haben, oder die Bereitschaft, sich selbst besonderen Risiken auszusetzen, sondern die willentliche Inkaufnahme der Schädigung anderer. Wie lassen sich diese negativen externen Effekte internalisieren?  Eine Impfpflicht kollidiert mit mehreren Grundrechten. Strafgelder oder der Zugang zum öffentlichen Leben nur mit Impfausweis sind ebenfalls heikel.

Eine Idee könnte sein, durch eine Auktion die notwendigen Prämien zu ermitteln, die man individuell zahlen müsste, um den gewünschten Impfschutz in der Gesellschaft zu erreichen. Dagegen sprechen jedoch Fehlanreize auf die Impfwilligen.

Zu prüfen wäre daher, ob Impfverweigerer (ohne medizinische Indikation) wegen der aus ihrem Verhalten resultierenden externen Effekte dadurch sanktioniert werden können, dass bei ihnen kein Versicherungsschutz im Falle einer Covid-19-Erkrankung besteht. Da die Betreffenden das Risiko offenkundig gering schätzen, ist für sie die subjektiv erachtete Eintrittswahrscheinlichkeit niedrig, der finanzielle Schaden bei Eintritt aber groß, was Anreizwirkungen haben sollte.

Damit würden die Impfgegner nicht aus dem Gesundheitsschutz herausgenommen, sondern nur aus dessen solidarischer Finanzierung. Natürlich, das geht erst einmal nur in der gesetzlichen Krankenversicherung. Und ja, es ist eine teilweise Abkehr des Solidarprinzips. Dem steht aber das Schutzinteresse der Solidargemeinschaft vor übergebührlicher Inanspruchnahme entgegen.

Die aktuelle Debatte macht deutlich, wie sehr uns die Pandemie in ethische Dilemmata führt. Doch schwierige Zeiten gebieten unangenehme Fragen. Die nächste steht mit der Impfstrategie im Raum. Zunächst die vulnerablen Gruppen oder die Erwerbstätigen, zunächst Polizisten oder die Lehrer? In der saturierten Wohlstandsgesellschaft sind wir solche Konflikte nicht gewöhnt.

Doch das ist die unausweichliche Lektion dieser Pandemie. Reife Gesellschaften können darüber streiten, doch reife Gesellschaften sind auch geprägt durch individuelle Identitätsansprüche, die den Kompromiss erschweren. Die Pandemie verlangt schlicht mehr Gemeinsinn als Kultur der Mitverantwortung.

Zum Beitrag im Handelsblatt

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