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(© Foto: woolzian/iStock)
Michael Hüther in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gastbeitrag 19. April 2017

Die EU nicht dem Handel mit den Briten opfern

Sosehr der Verlust der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft schmerzt, ein Untergang der europäischen Idee ist mit dem Brexit ebenso wenig verbunden wie ein ökonomisches oder gar politisches Desaster für Deutschland. Ein Gastbeitrag von IW-Direktor Michael Hüther in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Was immer der Europäische Rat Ende April über die Grundsätze für die Brexit-Verhandlungen entscheiden mag - klar ist schon jetzt, dass sich die 27 verbleibenden Mitglieder der Union durch den anstehenden Austritt Großbritanniens nicht auseinanderdividieren lassen. Nüchtern, problemorientiert und ohne jede Bestrafungsattitüde entwickelte Ratspräsident Tusk die aus EU-Sicht sinnvollen Grundsätze. Bestätigt wird dadurch, dass der Brexit zunächst und vor allem ein britisches Problem ist. Das Referendum war durch interne Konflikte der Torys motiviert, das Ergebnis mit Lügen und Falschaussagen erkämpft worden: kurzum, dem kompletten Repertoire des Populismus. Dabei mag die zu britischem Habitus gehörende grundsätzliche Kritik an der EU ebenso wie die Zweifel an der Flüchtlingspolitik mitgewirkt haben. Viel bedeutsamer als dies waren aber die regionalen wirtschaftlichen Ungleichgewichte und die Dominanz des Großraums London, die das Vereinigte Königreich prägen. Die nun auf den 8. Juni vorgezogenen Neuwahlen können die parteipolitischen Spannungen der Torys entschärfen und das Verhandlungsmandat von Zweifeln befreien. Klarheit ist allemal gut.

Sosehr der Verlust der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft schmerzt, ein Untergang der europäischen Idee ist damit ebenso wenig verbunden wie ein ökonomisches oder gar politisches Desaster für Deutschland. Natürlich hat der Brexit gewaltige Folgen für die EU - aber er eröffnet sogar Chancen, vor allem für eine EU-Verteidigungsgemeinschaft, die militärisch wie ökonomisch gut zu begründen ist. Bislang haben die Briten selbst kleine Schritte in diese Richtung verhindert.

Das White Paper der Kommission zeigt realistische Szenarien für die weitere Gestaltung der Union auf. Vom großen Sprung in die "Vereinigten Staaten von Europa" ist dort nichts zu lesen. Es werden Optionen skizziert, die dem Subsidiaritätsprinzip und der Konzentration auf das Wesentliche (Effektivität und Effizienz) ebenso Raum geben wie dem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Von einem Brüsseler Diktat keine Spur. Ebenso wenig stützt das Papier Verschwörungstheorien, welche die EU willfährig im Dienst französischer Politik in der Tradition von Richelieu sieht - nur darauf aus, Europa zu spalten.

Da das Königreich das drittwichtigste Zielland deutscher Exporte ist sowie Briten und Deutsche manche wirtschaftspolitische Sichtweise teilen, stellt sich die Frage nach der deutschen Position in den Brexit-Verhandlungen. Dafür wird vorgeschlagen, Deutschland solle sich für die britische Forderung nach vollem Zugang zum Binnenmarkt ohne Arbeitnehmer-Freizügigkeit verwenden und daran die Zustimmung für höhere Finanzierungsbeiträge an die EU knüpfen. Ein sinnvolles Gestaltungsprinzip für den EU-Finanzrahmen ist damit nicht verbunden. Das Argument, der Effekt des Freihandels sei ohne Arbeitskräftewanderung besonders stark, verkennt die Allokationsvorteile eines gemeinsamen Marktes.

Doch vor allem: Taugt Deutschland zum trojanischen Pferd der Briten, deren politische Führung sich traditionsverbunden planlos zwischen Versuch und Irrtum bewegt und deren staatliche Einheit bedroht ist? Aus keiner Perspektive machte dies Sinn. Deutschland kündigte so den Partnern in der EU die Solidarität auf und leitete eine Erosion der Gemeinsamkeiten ein. Denn in der Folge würde ein Land nach dem anderen seine Sonderwünsche voranstellen. Und wie glaubwürdig kann die Bundesregierung für die europäische Integration werben, wenn sie durch eine solche Strategie letztlich den Brexit-Populisten recht gäbe?

Die Einigkeit der EU-Mitglieder würde durch Deutschland gefährdet und die Chance vertan, ein neues politisches und ökonomisches Gleichgewicht in Europa zu entwickeln. Die EU darf gerade auch unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht auf den Binnenmarkt reduziert werden. Das käme dem kollektiven Exit aller Mitglieder durch Wandlung der Union in eine instabile Freihandelszone gleich. Die dann drohende Desintegration richtete ökonomisch gerade für Deutschland nachhaltig Schaden an. Wir opferten die EU für den Handel mit der Insel, kein überzeugendes Geschäft. Dennoch erfährt diese Position Zuspruch, und zwar von jenen, die grundsätzliche Zweifel am europäischen Projekt haben, die Kooperationsfähigkeit der Nationalstaaten verneinen und die EU als Instrument der finanziellen Ausbeutung Deutschlands deuten. Indes: Fernab der wirtschaftspolitischen Vorzüge liegt die stärkste Begründung der europäischen Integration in der jahrhundertelangen Geschichte von Krieg und Gewalt. Die Lektion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, dass Frieden und Freiheit nur durch transnationale Strukturen gesichert werden können.

Der größte Irrtum der europäischen Erzählung war allerdings, dass die Nationalstaaten verschwinden würden. Das vergisst die Modernisierungsleistung der Nationsbildung für die Ausprägung von Souveränität und Identität sowie für die Gewährung von Freiheit und Sicherheit. Europäische Politik muss diese historische Realität der Nationalstaaten berücksichtigen und ins Positive wenden. Die EU ist ein Club unvorhersehbarer Demokratien, der mit Eigensinnigkeiten und Konflikten umgehen, der Ungleichzeitigkeiten in der politischen und ökonomischen Entwicklung aushalten muss. Daran gemessen, war und ist die europäische Integration erstaunlich erfolgreich. Sie sucht auf der Welt ihresgleichen. Die Vereinigten Staaten befinden sich auf dem Weg in eine tiefe Verfassungskrise, China ist gefangen in seinen undemokratischen Strukturen, Russland und die Türkei haben sich als Partner der freien und demokratischen Welt vorerst verabschiedet. Die EU hingegen bleibt Bannerträger der Werte des transatlantischen Westens. Das alles ist ebenso aus ökonomischer Sicht zu bedenken, wenn die Verhandlungsstrategie der EU für den Brexit festlegt wird. Es geht um mehr als nur um Handelsfragen.

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