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(© Foto: Library of Congress)
Hans-Peter Fröhlich im Kölner Stadt-Anzeiger Gastbeitrag 25. Oktober 2011

Der schuldenfreie Staat: eine Vision?

Jahrzehntelang haben Politiker und deren Wähler Zuflucht in immer neuen Krediten gesucht, schreibt Hans-Peter Fröhlich, stellvertretender Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, im Kölner Stadt-Anzeiger. Heute holt die Vergangenheit die Gesellschaft ein.

Vor wenigen Tagen wurde in Washington ein neues Denkmal für den großen schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King eingeweiht. Es steht just an der Stelle, wo er vor 50 Jahren seine größte Rede gehalten hatte mit dem bis heute nachhauenden Refrain "I have a dream" – "Ich habe einen Traum". Martin Luther King hat damals die Vision einer Gesellschaft ohne Rassenschranken beschrieben. Es fiel damals in den USA unendlich schwer, angesichts der eklatanten Diskriminierung der Schwarzen in allen Lebensbereichen an diese Vision zu glauben. Aber King ließ sich durch das schreiende Unrecht im Hier und Jetzt den Blick für eine bessere Zukunft nicht verstellen.

Ein Bruchteil von Kings visionärer Kraft scheint auch im Angesicht der aktuellen Staatsschuldenkrise angebracht. Das Geschehen auf den Finanzmärken und in den Regierungszentralen zieht uns heute vollständig in seinen Bann. Ein Regierungsgipfel jagt den nächsten, ein Rettungspaket folgt auf das andere. Noch steht die endgültige Stabilisierung des Systems aus. Nur eines ist klar: Am Ende wird eine Rechnung stehen, an der ganz Europa lange zu zahlen haben wird.

Es fällt vielen in der derzeitigen Krise schwer, angesichts der beängstigenden Gewitterwolken am Horizont einen hoffnungsvollen Silberstreif zu erkennen. Und doch gibt es ihn. Nach dem Ende der Krise wird nichts mehr sein, wie es vorher war – jedenfalls soweit es die Staatsfinanzen betrifft. Wir erleben derzeit eine kopernikanische Zeitenwende. Bis in die jüngste Vergangenheit haben die westlichen Industriegesellschaften auf Pump gelebt. Jahr für Jahr überstiegen die Ausgaben des Fiskus seine Einnahmen, die öffentliche Verschuldung stieg fast kontinuierlich an. Wohlgemerkt: nicht nur in Griechenland, nicht nur im Euro-Raum. In den USA liegt der öffentliche Schuldenstand mit 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts noch deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Und in Großbritannien ist die Verschuldung so hoch wie im Euro-Raum, obwohl es nicht durch die Rettung der Gemeinschaftswährung belastet wird. An Lippenbekenntnissen zu soliden Staatsfinanzen hat es nirgendwo gemangelt. Aber vor die unliebsame Wahl gestellt, staatliche Leistungen einzuschränken oder dem Bürger neue Abgaben zuzumuten, haben die Regierungen jahrzehntelang unter beifälliger Mitwirkung der Wähler ihre Zuflucht lieber in noch ein bisschen mehr Staatsverschuldung gesucht.

Diese Politik war ja auch lange Zeit nur allzu verführerisch. Bei einem Schuldenstand von heute schon vielen Hundert Milliarden – was machen da ein paar Milliarden mehr in diesem oder im nächsten Jahr für einen Unterschied? Die neuen Schulden wurden zwar in gesamtwirtschaftlichen Statistiken erfasst. Aber die Zahlen waren abstrakt. Im Alltag spürte niemand, ob noch ein paar Milliarden hinzukamen. Nur gelegentlich beschlich uns der Gedanke, dass damit ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft gezogen wurde und unsere Kinder eines Tages die Rechnung für unseren Lebensstil würden übernehmen müssen. Mit der Staatsschuldenkrise sind die westlichen Gesellschaften von ihrer Vergangenheit eingeholt worden. Plötzlich wird sehr genau hingeschaut, wie hoch der Schuldenstand eines Landes ist und was eine Regierung zur nachhaltigen Konsolidierung der Staatsfinanzen unternimmt. Das tun inzwischen nicht nur die vielgescholtenen Rating-Agenturen. Dieser Tage hieß es von der WL Bank in Münster, dass sie an überschuldete Städte und Gemeinden keine Kredite mehr vergeben will. Da wird sich bald mancher Kämmerer umstellen müssen.

Auch in der Bevölkerung ist ein Sinneswandel eingetreten. Umfragen zeigen, dass den Menschen heute der Abbau der Staatsschulden wichtiger ist als eine Steuerentlastung. Sie gewichten die Zukunftsfähigkeit des Landes höher als ihren kurzfristigen persönlichen Vorteil. Mit der Ankündigung, die Staatsfinanzen auf solide Beine zu stellen, könnten plötzlich Wahlen zu gewinnen sein. Bei einigen Politikern ist die Botschaft allerdings noch nicht ganz angekommen. Die saarländische Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer hat unlängst angeregt, die vor zwei Jahren ins Grundgesetz geschriebene Schuldenbremse auszusetzen, wenn das Sparen anstrengend wird – so, wie es die Politik jahrzehntelang reflexhaft praktiziert hat. Ermutigend ist, wie schnell und entschieden nicht zuletzt ihre eigenen Parteikollegen der Saarländerin entgegengetreten sind. Bezeichnenderweise verwaltet sie die höchste Pro-Kopf-Verschuldung eines deutschen Flächenlandes. Wenn die Schrecken und die Kosten der aktuellen Staatsschuldenkrise in Europa eines Tages überwunden sind, lockt eine schöne neue Welt. Wir alle werden dann ein anderes Verhältnis zu den Staatsfinanzen und in letzter Konsequenz allgemein zur Staatstätigkeit entwickelt haben. Nach dem Motto: "I have a dream."

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