Seit Javier Milei Präsident ist, hat sich Argentinien wirtschaftlich stabilisiert: Positive Inflations- und Armutsdaten überraschen. Während der Rohstoffsektor boomt, befindet sich die Industrie in einer Rezession und droht den Wahlversprechen Mileis, insbesondere der Dollarisierung, zum Opfer zu fallen. Auch einige ideologische Projekte könnten die Wirtschaftsreformen torpedieren.

Argentinien: Wirtschaftliche Perspektiven und Risiken des Milei-Experiments
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Seit Javier Milei Präsident ist, hat sich Argentinien wirtschaftlich stabilisiert: Positive Inflations- und Armutsdaten überraschen. Während der Rohstoffsektor boomt, befindet sich die Industrie in einer Rezession und droht den Wahlversprechen Mileis, insbesondere der Dollarisierung, zum Opfer zu fallen. Auch einige ideologische Projekte könnten die Wirtschaftsreformen torpedieren.
Die Reformen Mileis haben erste Erfolge gezeigt, wie den Rückgang der Inflation durch massive Kürzungen im öffentlichen Sektor und Verringerung der Geldmenge (IERAL, 2024). Die Rückkehr von Devisen, bessere Kreditverfügbarkeit und steigende Unternehmensanleihen signalisieren Aussichten für weitere Stabilisierung (Vasconcelos, 2024a). Doch bedrohen Kürzungen im Gesundheitswesen und Bildungssystem die Daseinsvorsorge. Zudem wirft die Aufkündigung des erinnerungspolitischen Konsenses (Heinrich-Böll-Stiftung, 2024) Fragen hinsichtlich Mileis demokratischer Integrität auf.
Weitgehende Verharrung in der Industrie
Die konjunkturelle Erholung verläuft in den einzelnen Wirtschaftsbereichen sehr unterschiedlich, die Industrie stand im dritten und vierten Quartal 2024 weiterhin unter Druck. Die Bruttowertschöpfung (BWS, Produktion abzüglich Vorleistungen) der wichtigen Landwirtschaft (9 % der BWS) liegt derzeit nur knapp über dem Durchschnitt der letzten sieben Jahre (Abbildung).
Auch im verarbeitenden Gewerbe – mit knapp 19 Prozent der BWS der wichtigste produzierende Sektor – lässt die Erholung noch auf sich warten. Das Produktionswachstum zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Branchen. Energieintensive Sektoren wie Gummi und Kunststoff produzieren bis zu 25 % weniger als im ersten Quartal 2017. Auch die bedeutsame Chemieindustrie verharrt auf niedrigem Niveau. Im Gegensatz profitieren der Fahrzeug- und Landmaschinenbau von gestiegener regionaler Nachfrage. Vor allem die positiven Zahlen in der gewichtigen Nahrungsmittelindustrie (+8 % ggü. I/2017) und der rohstoffverarbeitenden Industrie (+5 %) tragen zur leicht positiven Wendung der BWS des verarbeitenden Gewerbes am aktuellen Rand bei.
Der Bergbau, inklusive der Gas- und Ölförderung, boomt schon seit langem und verzeichnet große Zuwächse an Bruttoanlageinvestitionen, unterstützt durch steigende Direktinvestitionen, vor allem aus den USA (BCRA, 2024). Denn steuerliche Vergünstigungen im Rahmen des RIGI-Programms machen Großinvestitionen in den Bergbau besonders attraktiv (Vasconcelos, 2024b). Die extraktive Rohstoffindustrie expandiert zwar, bleibt jedoch ein nachrangiger Sektor, da ihr Anteil an der gesamten BWS aktuell lediglich 5 % ausmacht.
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Wohin führt der argentinische Weg?
Ein zentrales Wahlversprechen Mileis war die Dollarisierung Argentiniens. Die Rohstoffindustrie könnte von einer (Teil-)Dollarisierung profitieren. In Ecuador führte die Dollarisierung zu einer Expansion des Rohstoffsektors, während die Industrie einen massiven Bedeutungsverlust erlitt (Tas/Togay, 2014). Der Wegfall des Währungsfaktors und die Nutzung komparativer Vorteile begünstigen eine einseitige Spezialisierung. Das verarbeitende Gewerbe gerät dabei unter erheblichen Konkurrenzdruck, da die Arbeitsproduktivität in Lateinamerika deutlich niedriger ist als in Europa oder den USA. Argentinische Industrieunternehmen müssten ohne Währungsvorteil direkt mit ausländischen Konkurrenten konkurrieren. Eine Dollarisierung würde die bestehende Industriekrise verschärfen. Aber auch ohne Dollarisierung wird ein verstärkter Rohstoffexport die argentinische Währung aufwerten und eine Importsubstitution fördern – ein Effekt, bekannt als Holländische Krankheit, der den Niedergang des verarbeitenden Gewerbes beschleunigen könnte. Zudem würde ein von Milei favorisiertes Handelsabkommen mit den USA diese Entwicklung noch beschleunigen.
Es bleibt unklar, wie Milei die Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes steigern will. Die geopolitisch bedingte Ansiedlung rohstoffnaher Industrien könnte eine Chance darstellen, neue industrielle Wertschöpfung zu etablieren, jedoch können neu entstehende Industrien nur zum Teil die traditionellen Industrien mit ihren hohen Wertschöpfungsanteilen und Beschäftigungszahlen ersetzen. Um die Industrie zu stärken, ist weiterer tiefgreifender Reformbedarf nötig:
- Arbeitsmarktreform: Die Lohnstückkosten in Argentinien liegen mehr als doppelt so hoch wie in Brasilien (Caullo, 2024), und anhaltende Arbeitsmarktfriktionen verhindern eine Ausweitung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (Colombo et al., 2024). Ausländische Investitionen im verarbeitenden Gewerbe zeigten zuletzt nur in der Automobilindustrie Wachstum, in anderen Bereichen stagnieren die Investitionen bereits seit geraumer Zeit oder gehen sogar zurück (BCRA, 2024). Der Sektor leidet unter geringer Produktivität und hohen Belastungen. Vorschläge wie die Ausweitung des Arbeitsvolumens oder die Bezahlung in Gutscheinen werden diskutiert, würden jedoch Arbeitnehmerrechte erheblich einschränken. Dies dürfte die Attraktivität des formellen Sektors mindern, anstatt eine nachhaltige Stärkung des Arbeitsmarkts und formaler Arbeitsverhältnisse zu bewirken.
- Steuerreform: Bislang hat Argentinien mit 35 % einen der höchsten Unternehmenssteuersätze der Welt (Pwc, 2024), doch Milei hat für 2025 eine umfassende Steuerreform angekündigt, die Unternehmen entlasten soll. 90 % der nationalen Steuern sollen abgeschafft werden. Fraglich ist, inwieweit die Einnahmeausfälle durch weitere Kürzungen im öffentlichen Sektor aufgefangen werden können und welche Folgen dies für die öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge hat. Dies wird zulasten von Humankapitalentwicklung und Innovation gehen und massive soziale Folgekosten haben.
- Energiepolitik: Mileis Vision, Argentinien zu einem „KI-Hub“ zu entwickeln, basiert auf der erfolgreichen argentinischen Digitalwirtschaft, die bereits einige bemerkenswerte Projekte hervorgebracht hat. Um diese zu stärken, plant er den Bau neuer Atomkraftwerke – ein Vorhaben, das erhebliche Kostenrisiken birgt. Der Bau von Atomkraftwerken ist derzeit nur in schnell wachsenden Volkswirtschaften wie China oder Indien rentabel, da dort günstige Arbeitskosten, effiziente Wertschöpfungs- und Recyclingketten sowie eine hohe Technologieaffinität vorherrschen (Bowen et al., 2023). Diese Voraussetzungen sind in Argentinien jedoch kaum gegeben. Stattdessen sollte der Fokus auf der Förderung der noch unterentwickelten erneuerbaren Energien liegen. Dies würde eine Basis für den Export grüner Produkte wie Wasserstoff schaffen.
Ideologie gefährdet Reformen
Entscheidend ist, dass Milei die Kettensäge nicht an die tragenden Pfeiler des Landes anlegt. Die Industrie ist seit Jahrzehnten ein wertschöpfungsreicher Wirtschaftssektor, der essenziell für den Arbeitsmarkt ist. Ein einseitiger Fokus auf den Rohstoffsektor birgt das Risiko, langfristig Wohlstand zu verlieren. Die Standortbedingungen für die Industrie müssen dringend verbessert werden, ansonsten droht eine rasche Deindustrialisierung, vor allem mit weiteren Freihandelsabkommen und einer Dollarisierung. Darüber hinaus schaden kontroverse kulturelle Reformen, wie die revisionistische Umdeutung der Militärdiktatur, die gesellschaftlichen Einheit und fördern Spaltung. Seine Nähe zu Donald Trump und internationalen Rechtspopulisten birgt die Gefahr, dass ideologiegetriebene Entscheidungen in Energie- und Gesellschaftsfragen die wirtschaftlichen Reformen untergraben. Milei muss seine Reformen realistisch gestalten, indem er die Besonderheiten der argentinischen Gesellschaft berücksichtigt und auf ideologische Experimente verzichtet. Zudem darf Wirtschaftspolitik nicht nach starren Lehrbuchmodellen gestaltet werden, sondern erfordert einen ganzheitlichen und pragmatischen Ansatz.

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