Überraschend konsequent hat der französische Präsidentschaftswahlkampf eines der wichtigsten ökonomischen Themen ausgeklammert: Die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen den Regionen. Trotz der positiven wirtschaftlichen Entwicklung, während der Macron-Regentschaft sind die regionalen Ungleichheiten eines der großen Themen mit politischer Sprengkraft. Sowohl die Gelbwestenproteste als auch die Schwierigkeiten, im ländlichen Raum eine adäquate Daseinsvorsorge zu organisieren, sind hierfür tragende Beispiele.
Der Elefant im französischen Raum: Regionale Disparitäten
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Überraschend konsequent hat der französische Präsidentschaftswahlkampf eines der wichtigsten ökonomischen Themen ausgeklammert: Die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen den Regionen. Trotz der positiven wirtschaftlichen Entwicklung, während der Macron-Regentschaft sind die regionalen Ungleichheiten eines der großen Themen mit politischer Sprengkraft. Sowohl die Gelbwestenproteste als auch die Schwierigkeiten, im ländlichen Raum eine adäquate Daseinsvorsorge zu organisieren, sind hierfür tragende Beispiele.
Die drei in den Umfragen hinter Emmanuel Macron geführten Präsidentschaftskandidierenden Valérie Précresse (Republicaine), Marine Le Pen (Rassemblement National) und Eric Zemmour (Reconquête) haben die erste Phase des Wahlkampfes mit ihren Ausfällen zu den Themen Migration und Identitätspolitik dominiert. Der erst spät ins Rennen um das höchste Amt im französischen Staat eingestiegene amtierende Präsident versucht sich hingegen, über seine Vermittlerrolle auf dem internationalen Parkett sowie über die französische EU-Ratspräsidentschaft in Szene zu setzen. Mit dem gemeinschaftlich schuldenfinanzierten „Next Generation EU“ Programm kann er bereits auf einen Erfolg verweisen, der auch den ländlichen Regionen zugutekommen soll und für Frankreich rund 40 Milliarden Euro Förderung avisiert (Darvas et al., 2022).
Zudem blickt Macron auf eine wirtschaftlich erfolgreiche Legislaturperiode zurück. Auch dank der satten Staatshilfen wurde die französische Wirtschaft relativ unbeschadet durch die Pandemieperiode geleitet. Die Steuersenkungen haben die Wirtschaft angekurbelt; die Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit trotz Pandemie rund zwei Prozentpunkte niedriger ausfällt als bei Macrons Amtsantritt. Und trotzdem braucht die Wirtschaft weitere Impulse. Als heikelstes Unterfangen gilt die angedachte Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre. Trotz der etwas günstigeren demographischen Lage als in Deutschland macht die Alterung auch vor der Grande Nation nicht halt. Allein das Aufrufen längerer Lebensarbeitszeit bringt das Land jedoch an den Rand eines Generalstreiks. Als Achillesferse dürfte sich zudem die mittlerweile auf 115 Prozent des BIP angestiegene Staatsverschuldung herauskristallisieren. Diese wird die Handlungsfähigkeit des französischen Staates einschränken – auch beim Einhegen der regionalen Ungleichgewichte schielt man daher auf Europa.
Die regionalen Disparitäten stehen bislang wie ein Elefant im Raum des französischen Wahlkampfs. Das ist nicht zuletzt der Größe des historisch gewachsenen Problems geschuldet, das einfache Rezepte ins Leere laufen lässt. So ist Frankreich etwa extrem von seiner Hauptstadtregion abhängig: Auf der Île-de-France finden 18 Prozent der Franzosen ihr Zuhause, die gemeinsam 31 Prozent des französischen BIP erwirtschaften. Würde man die Region aus Frankreich herausrechnen, läge das landesweite BIP pro Kopf über 15 Prozent niedriger. Zum Vergleich: Würde man Berlin aus der deutschen Statistik herausnehmen, bliebe die Wirtschaftskraft pro Kopf praktisch unverändert (Diermeier / Goecke, 2022). Und selbst innerhalb der französischen Hauptstadtregion sind die wirtschaftlichen Gegensätze eklatant. So lag das nominale BIP pro Kopf im Pariser Zentrum sowie im anliegenden Départements Hauts-de-Seine im Jahr 2020 nominal mit 108.700 Euro respektive 106.800 Euro rund viermal so hoch wie im benachbarten Département Seine-et-Marne.
Eine Konvergenzanalyse auf Basis der Eurostat-Regionaldatenbank bestätigt die Bedeutung der regionalen Unterschiede und zeigt, dass die Disparitäten des BIP selbst in Kaufkraftparitäten zuletzt zugelegt haben. Als Vergleich werden die Werte für Deutschland abgebildet. Auf der sogenannten NUTS-3 Ebene stehen 401 kreisfreie Städte und Landkreise 96 französische Départements gegenüber (exklusive der Überseeterritorien). Auf der gröberen NUTS-2 Ebene werden auf französischer Seite 22 Régions (exklusive der Überseeterritorien) geführt; in Deutschland sind es 38 (ehemalige) Regierungsbezirke, Stadtstaaten sowie kleinere Bundesländer. Damit sind die Regionaldaten nur bedingt vergleichbar. Da die regionale Abgrenzung in Deutschland wesentlich kleingliedriger vorgenommen wird, unterschätzt der direkte Vergleich die Unterschiede in Frankreich.
Die linke Abbildung zeigt die Variationskoeffizienten („Sigma-Konvergenz“) als Maßzahl der regionalen Ungleichheit über die Zeit. Auf NUTS-3 Ebene ist die regionale Unwucht zwischen den Départements im Vergleich zum Jahr 2007 vor der Wirtschafts- und Finanzkrise stark angestiegen, wohingegen sich die Ungleichgewichte zwischen den deutschen Kreisen kaum verändert haben. Auf Ebene der größeren NUTS-2 Regionen ist die Divergenz in Frankreich zwar geringer, dafür hat sich die Wirtschaftskraft der deutschen Regierungsbezirke deutlich angenähert. Wirtschaftlich weniger entwickelte Regionen haben hier – im Gegensatz zu Frankreich – aufgeholt.
Dieses Bild bestätigt der regionale Vergleich zwischen kaufkraftbereinigtem BIP pro Kopf und dessen Wachstum („Beta-Konvergenz“). Den stärksten Zuwachs des kaufkraftbereinigten BIP pro-Kopf verzeichnete zwischen 2020 und 2007 mit knapp 22 Prozent die Île-de-France, die bereits reichste Region Frankreichs (siehe Abbildung rechts). Auf Ebene der Départements liegen tatsächlich die beiden extrem wohlhabenden Regionen im Herzen von Paris mit einem pro Kopf Wachstum von über 30 Prozent an der Spitze. Spiegelbildlich bildet Lorraine, die ärmste Region Frankreichs (exklusive Überseeregionen), mit gerade einmal 3,2 Prozent Zuwachs in 13 Jahren das Schlusslicht. In Frankreich, das im Beobachtungszeitraum mit lediglich 16 Prozent pro Kopf Wachstum weit hinter Deutschland mit 25 Prozent Wachstum zurückfällt, verteilen sich die geringeren Zugewinne damit besonders ungleich. Demgegenüber zeigt die Entwicklung hierzulande in die entgegengesetzte Richtung. Mit Mecklenburg-Vorpommern, Leipzig und Thüringen treiben insbesondere einige ostdeutsche Wachstumschampions mit relativ niedrigem Wohlstand eine leichte Konvergenz. Hamburg, Deutschlands mit Abstand reichste NUTS-2 Region, kann hingegen nur ein deutlich unterdurchschnittliches Wachstum vorweisen.
Hinzu kommt, dass im dünn besiedelten ländlichen Raum Frankreichs, die adäquate Bereitstellung der öffentlichen Dienstleistungen eine noch größere Herausforderung darstellt als in Deutschland: Fast 60 Prozent der Départements weisen eine Bevölkerungsdichte von unter 100 Personen pro Quadratkilometer auf – im Vergleich zu gerade einmal 16 Prozent der deutschen Kreise. Der Altersdurchschnitt ist hier höher. Den Zuzug verzeichneten zuletzt fast ausschließlich die dichter besiedelten Gebiete. Mit Blick auf die schwierige Grundversorgung durch Landärzte spricht man bereits von medizinischen Wüsten („déserts médicaux“). Zudem besteht ein unzureichendes ÖPNV Angebot. Flächendeckend abwesend sind zudem die für die deutsche Wirtschaft im ländlichen Raum so charakteristischen „Hidden Champions“, was sich in Haushaltseinkommen wie Gemeindefinanzen bemerkbar macht. Die im Kontext der aktuellen Preissprünge an den Rohstoffmärkten vernachlässigbar wirkende für das Jahr 2019 geplante „Ökosteuer“ auf Diesel (6,5 Cent) und Benzin (2,9 Cent je Liter) wurde vielerorts als nicht tragbar empfunden und entwickelte sich schließlich zum Auslöser der Gelbwestenproteste. Dem vermeintlichen Rückzug des Staates außerhalb der Agglomerationsgebiete haben Geographen eine große politische Bedeutung zugemessen (Guilluy, 2018). Wirtschaftliche Schwierigkeiten sowie der Abstand zum nächstgelegenen Bahnhof wurden etwa als Indikatoren für das Wahlergebnis des rechtspopulistischen Rassemblement National ausgemacht – ein Ergebnis, das sich zumindest in Deutschland empirisch nicht reproduzieren lässt (Diermeier, 2020).
Gemeinsam mit der zunehmenden Divergenz in der Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse in Frankreich lässt sich eine im internationalen Vergleich beängstigende Spaltung zwischen der urbanen (politischen) Elite und den Bedürfnissen der Menschen vor Ort diagnostiziert. Unter den Anhängern des Rassemblement Nationals nimmt sogar jeder zweite Befragte starke oder sehr starke Stadt-Land Konflikte wahr (Silver et al., 2021). Präsident Macron halten lediglich 32 Prozent der Franzosen für „nah an den Sorgen der Menschen“ (Economist, 2022). Einige Zeit sah es so aus, dass seine politische Konkurrenz daraus Kapital schlagen könnte. Nun spielen die internationalen Ereignisse dem Präsidenten in die Karten und überdecken Frankreichs drängendes Problem.
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