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Jürgen Matthes IW-Kurzbericht Nr. 74 6. Oktober 2021 Italiens Aufbauplan geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug

Die Regierung Draghi hat einen durchaus anspruchsvollen Aufbauplan vorgelegt als Voraussetzung für den Erhalt der europäischen Gelder aus dem Aufbaufonds. Doch an einigen Stellen greifen die Vorhaben noch etwas zu kurz und ihre Umsetzung ist risikobehaftet.

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Italiens Aufbauplan geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug
Jürgen Matthes IW-Kurzbericht Nr. 74 6. Oktober 2021

Italiens Aufbauplan geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die Regierung Draghi hat einen durchaus anspruchsvollen Aufbauplan vorgelegt als Voraussetzung für den Erhalt der europäischen Gelder aus dem Aufbaufonds. Doch an einigen Stellen greifen die Vorhaben noch etwas zu kurz und ihre Umsetzung ist risikobehaftet.

Die Europäische Union (EU) hat auf die Corona-Krise mit einem umfangreichen Fonds zur Bekämpfung der mittelfristigen Krisenfolgen und zur Mitfinanzierung der Transformationen bei Klimaschutz und Digitalisierung reagiert. Damit verbunden sind neben zinsgünstigen Darlehen auch finanzielle Transfers aus Brüssel. Voraussetzung für die Auszahlung dieser Gelder ist ein detaillierter Aufbauplan. Bislang haben fast alle Länder ihre Pläne vorgelegt. Rund 20 hat die Europäische Kommission bereits genehmigt und teils auch schon Gelder ausgezahlt.

Italien ist der Staat mit dem höchsten Transfervolumen, auch weil das Land besonders hart von der Krise getroffen wurde. Es erhält aus der Aufbau- und Resilienzfazilität bis zu knapp 192 Milliarden Euro. Davon entfallen rund 123 Milliarden Euro auf zinsgünstige Darlehen und beachtliche rund 69 Milliarden Euro an Transfers, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Zukunftsweisende Investitionen und Reformen sind dort auch deshalb besonders nötig, weil das Land hoch verschuldet ist und ein chronisch schwaches Produktivitätswachstum aufweist. Die reale Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung liegt aufgrund der drei Krisen seit 2008 im Jahr 2020 sogar um 10 Prozent unter dem Niveau des Jahres 2000. Selbst im Zuge einer moderaten Erholungsphase nach der globalen Finanzmarkt- und der Euroschuldenkrise hatte das Land zwischen 2015 und 2019 das Ausgangsniveau von vor rund 20 Jahren noch nicht wieder erreicht. Im Folgenden wird der italienische Investitions- und Reformplan genauer betrachtet.

Italiens Plan im Überblick

Der Plan legt fest, wie die europäischen Gelder in den nächsten Jahren verwendet werden sollen. Dabei ist die Aufteilung auf die Ziele Klimaschutz und Digitalisierung – wegen Abgrenzungsproblemen und thematischen Überschneidungen – nicht eindeutig zu bestimmen. Unterschiedliche Studien beziffern den Anteil für die grüne Transformation auf zwischen rund 30 und deutlich über 40 Prozent und den Anteil für die digitale Transformation auf zwischen 21 und 25 Prozent (Corti/Ferrer, 2021; European Commission, 2021; OECD, 2021).

Investiert werden soll auch nennenswert in die Infrastruktur, vor allem im Süden Italiens. Digitale Anbindung und Bahnnetze stehen dabei im Vordergrund. Viele teils auch kleinere Vorhaben sollen zudem das Forschungsumfeld Italiens verbessern, etwa indem nicht nur moderne Forschungsaktivitäten (etwa im Bereich Künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Start-ups), sondern auch die Vernetzung und Verbreitung des Forschungswissens stärker gefördert werden.

Weitere Investitionen und Reformen in anderen Bereichen zielen auch darauf ab, mehr Wachstum und Produktivität zu schaffen. Darüber wird im Folgenden ein kurzer kursorischer Überblick gegeben.

Arbeitsmarkt

Mit Blick auf die vielfältigen Probleme am Arbeitsmarkt steht mehr aktive Arbeitsmarktpolitik im Mittelpunkt des italienischen Aufbauplans. Dabei geht es vor allem um eine Verbesserung der (Wieder-)Beschäftigungschancen Arbeitsloser, etwa durch ein darauf ausgerichtetes größeres Programm, mehr und bessere Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie eine Verbesserung und mehr Einheitlichkeit bei den Hilfeleistungen von lokalen Arbeitsämtern bei der Arbeitsplatzsuche. Daneben soll die Frauenerwerbstätigkeit unter anderem durch Investitionen von 4,6 Milliarden Euro in bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten erhöht und stärker gegen Schwarzarbeit vorgegangen werden.

Bildung und Qualifizierung

Vor dem Hintergrund von umfassenden Schwächen im italienischen Bildungssystem sollen zahlreiche Reformen und Investitionen entlang der gesamten Bildungskette erfolgen – vom Kindergarten bis zur Universität. Im Schulsystem sollen beispielsweise die Gebäude besser digital vernetzt und bei Bedarf saniert werden, Maßnahmen gegen Schulabbrüche verstärkt und der Übergang in den Arbeitsmarkt gerade auch mit Blick auf berufsbildende Einrichtungen verbessert werden.

Justizsystem

Justizverfahren in Italien dauern sehr lang und hemmen damit das Wirtschaftsleben. Daher liegt hier ein wichtiger Fokus des Aufbauplans, wobei er auf schon begonnene Maßnahmen aufsetzen kann. Ein wesentliches Ziel ist das Abarbeiten des großen Rückstands und eine Verkürzung der Verfahren. Dazu sollen befristet deutlich mehr Justizangestellte angestellt werden und zudem auch organisatorische Reformen für effizientere Verfahren ergriffen werden. Diesen Zielen dient auch eine Digitalisierung des Justizwesens und die stärkere Nutzung von außergerichtlichen Zivilverfahren

Öffentliche Verwaltung

Italiens öffentliche Verwaltung gilt als langsam, ineffizient und sehr bürokratisiert. Das liegt auch an teils widersprüchlichen Vorschriften auf den verschiedenen Verwaltungsebenen sowie einem knappen, veralteten und teils fachlich nicht adäquaten Personalbestand. Daher sollen auch hier befristet neue gut qualifizierte meist junge Angestellte eingestellt werden, um für frischen Wind zu sorgen. Zudem geht es darum, Auswahlverfahren und Karriereperspektiven zu verbessern, um talentierte Beschäftigte zu gewinnen und halten zu können. Bestehendes Personal wird verstärkt weitergebildet und umgeschult, vor allem auf lokaler Ebene. Im Zuge eines Bürokratieabbaus ist außerdem eine Vereinfachung und mehr Stringenz bei Verwaltungsvorschriften geplant, um administrative Prozesse und öffentliche Ausschreibungen zu beschleunigen. Dazu sollen auch „fast-track“-Gesetze und eine stärkere Digitalisierung beitragen.

Wettbewerbspolitik

Auch die Wettbewerbspolitik, bei der Italien im internationalen Vergleich gewissen Nachholbedarf hat, soll verbessert werden Es geht darum, Wettbewerbshürden wie Markteintrittsbarrieren zu verringern und die Wettbewerbsintensität bei öffentlichen Ausschreibungen, vor allem im Bereich Klima- und Umweltschutz, zu erhöhen. Zudem sollen Kartellbehörden und Wettbewerbsaufsicht gestärkt werden durch mehr Effizienz und Digitalisierung.

Fiskalische Strukturreformen

Vor dem Hintergrund der hohen Staatsverschuldung sollen mehrere Maßnahmen dazu beitragen, die Schulden tragfähig zu halten. Es geht um verstärkte Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung, etwa durch eine kritische Prüfung des bisherigen Vorgehens und durch eine personell und analytisch verstärkte Steuerfahndung. Zudem stehen mehrere jährliche Überprüfungen der Staatsausgaben an und mit einer reformierten Rechnungslegung sollen die öffentlichen Finanzen besser überwacht werden.

Bewertung und Fazit

Positiv zu bewerten sind vor allem folgende Aspekte:

  • Der Aufbauplan ist deutlich ehrgeiziger als jener der Vorgängerregierung, die nicht zuletzt an dieser Frage gescheitert war. Ministerpräsident Draghi scheint die europäischen Gelder als echte Chance für ein Verbesserung der italienischen Wirtschaftsbedingungen nutzen zu wollen.
  • Unterschiedliche Studien schätzen die positiven Wachstumswirkungen bis zur Mitte der 2020er Jahre auf um die 2 Prozent der Wirtschaftsleistung (OECD, 2021). Allerdings weisen die Schätzungen auch annahmebedingt eine hohe Spannweite auf und sind mit großer Vorsicht zu interpretieren.
  • Die vorgeschlagenen Maßnahmen werden überwiegend als angemessen und relevant betrachtet (Corti/Ferrer, 2021; Europäische Kommission, 2021). Das gilt allerdings etwas weniger für die Bereiche Arbeitsmarkt sowie Bildung und Qualifizierung.
  • Reformen werden relativ zu Investitionen zeitlich vorgezogen (Frontloading), weil Reformen oft erst die Voraussetzungen zu einer effizienten Nutzung europäischer Gelder schaffen oder verbessern.
  • Mit der Aufbau- und Resilienzfazilität werden anders als im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) positive Anreize gesetzt. Selbst gewählte Reformen werden mit EU-Geldern unterstützt, sodass die Regierungen höhere Anreize zur Umsetzung ihrer eigenen Vorschläge haben (mehr Ownership). Dagegen werden beim ESM in akuten Krisen Reformen als Gegenleistung zu Finanzhilfen von außen vorgegeben. Dieser Ansatz bleibt freilich richtig und nötig, soweit Krisen – anders als in der Corona-Krise – selbst verschuldet sind.
  • Auch ist richtig, dass die Gelder in Tranchen ausgezahlt werden und an die Einhaltung von klaren Zielmarken und Meilensteinen gebunden sein sollen.

Einige Aspekte sind aber problematisch:

  • Zahlreiche Maßnahmen, vor allem in den Bereichen Arbeitsmarkt, Bildung/Qualifizierung sowie teils auch bei der Wettbewerbspolitik, sind nur recht vage beschrieben und es fehlen teilweise die klar definierten Meilensteine. Zudem fällt es bei den meisten Bereichen schwer, die Kostenschätzungen nachzuvollziehen. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass nicht viel Zeit für die Aufstellung des Aufbauplans zur Verfügung stand.
  • Trotz der avisierten Reformen der öffentlichen Verwaltung ist fraglich, ob die hohen Finanzmittel wirklich eine produktive Verwendung finden werden (mangelnde Absorption). Denn Italien hat schon bei den normalen EU-Haushaltsmitteln Probleme, dies zu gewährleisten.
  • Vor allem auf dem Arbeitsmarkt greifen die Reformen wohl aus Rücksicht auf politische Widerstände zu kurz. Das betrifft besonders die weiter bestehenden Probleme durch die hohe Belastung des Faktors Arbeit mit Lohnnebenkosten und durch ein zu wenig produktivitätsorientiertes Tariflohnsystem. Auch gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit finden sich zu wenige konstruktive Maßnahmen.
  • Zwar ist die Stärkung des Personalbestands im Justizwesen und der öffentlichen Verwaltung mithilfe der europäischen Gelder sehr sinnvoll. Allerdings erscheint fraglich, was nach Auslaufen der Finanzierung passiert. Möglicherweise hilft hier ein verstärkter Austritt älterer öffentlicher Angestellter aus dem Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren.
  • Es bestehen relevante Umsetzungsrisiken. Auf politischer Ebene droht durch Uneinigkeit und Egoismus in der breiten Regierungskoalition Draghis eine Verwässerung oder sogar Verschleppung wichtiger Reformen. Zudem dürften die Mängel in der öffentlichen Verwaltung trotz der Gegenmaßnahmen weiterhin eine relevante Umsetzungshürde bleiben.

Daher ist es nötig, dass die Meilensteine zur Auszahlung der Gelder noch klarer definiert werden, wo das noch nicht der Fall ist. Zudem ist ein intensives Monitoring durch die Europäische Kommission, aber auch durch nationale Stakeholder und unabhängige wissenschaftliche Institute unverzichtbar.

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