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Jasmina Kirchhoff / Jochen Pimpertz IW-Kurzbericht Nr. 32 4. April 2022 Arzneimittelkosten treiben nicht die GKV-Ausgabenentwicklung

Einsparungen bei Arzneimittelausgaben sollen die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stabilisieren, obwohl diese im vergangenen Jahrzehnt lediglich proportional zu den GKV-Leistungsausgaben gestiegen sind. Mehr noch konterkarieren die geplanten Maßnahmen alle Bemühungen, den Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland zu stärken.

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Arzneimittelkosten treiben nicht die GKV-Ausgabenentwicklung
Jasmina Kirchhoff / Jochen Pimpertz IW-Kurzbericht Nr. 32 4. April 2022

Arzneimittelkosten treiben nicht die GKV-Ausgabenentwicklung

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Einsparungen bei Arzneimittelausgaben sollen die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stabilisieren, obwohl diese im vergangenen Jahrzehnt lediglich proportional zu den GKV-Leistungsausgaben gestiegen sind. Mehr noch konterkarieren die geplanten Maßnahmen alle Bemühungen, den Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland zu stärken.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach rechnet damit, dass der GKV mit dem Auslaufen des ergänzenden Bundeszuschusses im nächsten Jahr sowie aufgrund des erwarteten Ausgabenwachstums 2023 eine Finanzierungslücke von 16 Milliarden Euro droht. Diese zu schließen, würde einen um rund 1 Prozentpunkt höheren Zusatzbeitragssatz erfordern. Der Referentenentwurf zu einem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz beinhaltet deshalb ein Maßnahmenpaket, das neben einer Erhöhung des regulären Bundeszuschusses um 5 auf 19,5 Milliarden Euro vor allem Einsparungen bei den Arzneimittelausgaben vorsieht (BMG, 2022a). Im kommenden Jahr sollen damit rund 2,2 Milliarden Euro weniger ausgegeben werden.

Fragwürdige Begründung

Der Gesetzesentwurf verweist zunächst auf das Auseinanderklaffen der Entwicklungen von beitragspflichtigen Einkommen der Versicherten und GKV-Ausgaben in den letzten beiden Jahren. Dies ist allerdings coronabedingt zu erklären. Nicht zuletzt deshalb wurde der ergänzende Steuerzuschuss des Bundes für dieses Jahr einmalig auf 28,5 Milliarden Euro erhöht. Sieht man von diesem Sondereffekt ab, dann ergeben sich aber bislang kaum Hinweise auf ein systematisches Auseinanderklaffen beider Größen (Pimpertz, 2019, 128). Vielmehr besteht die Hoffnung, dass sich mit dem Überwinden der Pandemie das Trendwachstum von Beitragseinnahmen und GKV-Leistungsausgaben zumindest mittelfristig wieder angleichen.

Der Hinweis auf die demografischen Herausforderungen wiegt dagegen schwerer. Denn mit dem Wechsel der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand drohen in den kommenden Jahrzehnten die durchschnittlichen beitragspflichtigen Einkommen schwächer zu wachsen als die durchschnittlichen Leistungsausgaben, zumal dann auch die ausgabenintensiven Altersgruppen häufiger besetzt sein werden (Pimpertz, 2019, 132 f.). Ob dieses Problem ausgerechnet durch die erhofften Einsparungen bei den Arzneimittelausgaben gelöst werden kann, erscheint aber mehr als fraglich:

  • Der Anteil der Arzneimittelausgaben an allen GKV-Leistungsausgaben ist vor allem seit der AMNOG-Reform weitgehend konstant geblieben. Zwischen den Jahren 2011 und 2020 schwankte er zwischen 16,6 Prozent (2013) und 17,4 Prozent (2020). Wären die für das Jahr 2023 erhofften Einsparungen bereits 2020 realisiert worden, hätte der Anteil zwar auf 16,7 Prozent gesenkt werden können. Die GKV-Leistungsausgaben wären insgesamt aber nur um 0,9 Prozent gesunken – umgerechnet auf den Beitragssatz ein Entlastungspotenzial von rund 1 Zehntelprozentpunkt.
  • Betrachtet man die jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten verschiedener Ausgabenkategorien, dann sind die Arzneimittelausgaben je Versicherten im gleichen Zeitraum mit jahresdurchschnittlich 3,6 Prozent gestiegen, also mit nahezu gleicher Dynamik wie die GKV-Leistungsausgaben insgesamt. Ausgabentreiber waren eher die Heil- und Hilfsmittel oder die ambulante Versorgung (Abbildung).
  • Richtig ist, dass die Arzneimittelausgaben je Versicherten im Jahr 2020 mit 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr und zuletzt sogar mit geschätzt 7,8 Prozent gestiegen sind (BMG, 2022b; 2021). Offen ist aber, in welchem Umfang die Corona-Pandemie diese Entwicklung beeinflusst hat. Nach den vorläufigen Rechnungsergebnissen sind die GKV-Leistungsausgaben je Versicherten zuletzt aber um gut 8,5 Prozent gestiegen (BMG, 2022b) – die Dynamik bei den Arzneimittelausgaben ist demnach unterproportional.

 

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Sinkende Standortattraktivität

Gleichzeitig ist mit der Pandemie deutlich geworden, dass auch die Arzneimittelversorgung hierzulande von der Stabilität globaler Produktions- und Lieferketten abhängt. Als Reaktion auf die Erfahrungen während der Pandemie wird deshalb seit zwei Jahren über das „reshoring“ der pharmazeutischen Produktion diskutiert – also die Rückverlagerung der Arzneimittelherstellung nach Europa, insbesondere nach Deutschland. Gleichzeitig hat die Entwicklung der Corona-Impfstoffe deutlich gemacht, welche Bedeutung die forschende Arzneimittelindustrie für den deutschen Standort hat. Statt einer Stärkung drohen die geplanten Maßnahmen aber die Standortattraktivität zu schwächen.

  • Rückwirkende Erstattung. Anbieter innovativer, patentgeschützter Medikamente können bislang im ersten Jahr der Markteinführung nach der Zulassung den Preis frei bestimmen. In den ersten drei Monaten nach Markteinführung erfolgt eine Begutachtung des medizinischen Zusatznutzens gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie, welche in der Regel durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen erfolgt. Innerhalb der nächsten drei Monate entscheidet der Gemeinsame Bundesauschuss auf der Grundlage dieser Bewertung über den Zusatznutzen des Arzneimittels. Bei Arzneimitteln mit belegtem Zusatznutzen verhandelt anschließend der Spitzenverband der GKV mit dem Hersteller über den endgültigen Erstattungsbetrag, der dann ab dem 13. Monat nach Markteinführung gilt. Nach den bisherigen Erfahrungen liegen die Erstattungen in der Regel um rund 20 Prozent unter dem Einführungspreis (Greiner et al., 2020).
    Mit der nun vorgesehenen Verkürzung der Phase der freien Preissetzung von zwölf auf sechs Monate und der damit für die Unternehmen verbundenen rückwirkenden Erstattung wird das unternehmerische Risiko einer Markteinführung innovativer Arzneimittel in Deutschland erhöht. So haben nach den aktuellen Plänen des Bundesgesundheitsministeriums die Hersteller innovativer Arzneimittel die voraussichtliche Differenz zwischen dem ausgehandelten Erstattungspreis und dem bei Markteinführung festgesetzten Preis ab dem 7. Monat nach Markteinführung zurückzuzahlen. Damit werden die gerade seit Beginn der Corona-Pandemie formulierten Bekenntnisse zur Stärkung des deutschen Produktionsstandorts mit dem Ziel der zukünftigen Sicherung der Gesundheitsversorgung konterkariert. Mit den geplanten Änderungen der Erstattungsbedingungen droht den Patienten/Patientinnen hierzulande im schlimmsten Fall ein erschwerter oder verspäteter Zugang zu innovativen Arzneimitteln.
  • Erhöhter Herstellerrabatt. Zusätzlich wird der Herstellerabschlag bis Ende 2026 insbesondere für patentgeschützte Arzneimittel gestaffelt erhöht. Zudem wird für Hersteller von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen ein Kombinationsabschlag in Höhe von 15 Prozent auf den Erstattungsbetrag eingeführt. Im Ergebnis werden damit die Möglichkeiten zur Amortisation der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen zusätzlich einschränkt. Die erhöhten Zwangsrabatte schwächen den Forschungs- und Produktionsstandort in einer Zeit, in der Deutschland zum einen eine weltweite Vorreiterposition in der mRNA-Technologie eingenommen hat und zum anderen viele Länder, beispielsweise die USA, Frankreich, Südkorea oder China, in besonderem Maße in ihre Pharmaindustrie investieren.
  • Verlängertes Preismoratorium. Seit 2010 sind Preiserhöhungen für Arzneimittel, die keinem Festbetrag unterliegen, faktisch ausgeschlossen. Lediglich 2018 wurde ein begrenzter Inflationsausgleich gewährt. Dieses Preismoratorium soll nun für weitere vier Jahre verlängert werden. Im Gegensatz zu anderen Branchen können die pharmazeutischen Unternehmen damit Kostensteigerungen nicht über Preisanpassungen ausgleichen, insbesondere nicht die aktuellen Entwicklungen bei den Energie- und Transportkosten.

Die Entwicklung eines innovativen Arzneimittels beansprucht durchschnittlich 13 Jahre und nur ein geringer Teil der begonnenen Forschungsansätze führt auch zu einem marktfähigen Medikament. Für forschende Arzneimittelhersteller lohnt sich eine Investition in die Arzneimittelforschung damit nur, wenn im Fall einer erfolgreichen Entwicklung auch wirtschaftliche Erfolge möglich sind. Die geplanten Änderungen schwächen den deutschen Markt. Nicht nur, dass Deutschland als Absatzmarkt innovativer Arzneimittel für Unternehmen unattraktiver wird und damit ein Szenario droht, in welchem für Patienten/Patientinnen der Zugang zu wichtigen innovativen Therapien verspätet oder gar nicht erfolgt. Je unattraktiver eine Markteinführung in Deutschland wird, desto eher stellt sich auch die Frage, warum sich forschende Arzneimittelhersteller hierzulande ansiedeln sollten, statt ihre Forschungs- und Produktionsstandorte in einem anderen Leitmarkt zu stärken, in dem die Rahmenbedingungen attraktiver erscheinen und von dem aus sich der globale Markt ebensogut erschließen lässt.

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