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Helena Bach IW-Kurzbericht Nr. 6 3. Februar 2022 Tarifsystem in Deutschland: Fehlende Beteiligung trotz großer Wertschätzung

Tarifautonomie, Tarifbindung, Tarifverträge – das sind hohe Güter im deutschen Wirtschaftssystem, die zum Wohlstand beitragen und in Politik und Gesellschaft geschätzt werden. Trotzdem sinkt die Tarifbindung kontinuierlich und dennoch verlieren die Tarifvertragsparteien an Bindekraft und Mitgliedern.

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Fehlende Beteiligung trotz großer Wertschätzung
Helena Bach IW-Kurzbericht Nr. 6 3. Februar 2022

Tarifsystem in Deutschland: Fehlende Beteiligung trotz großer Wertschätzung

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Tarifautonomie, Tarifbindung, Tarifverträge – das sind hohe Güter im deutschen Wirtschaftssystem, die zum Wohlstand beitragen und in Politik und Gesellschaft geschätzt werden. Trotzdem sinkt die Tarifbindung kontinuierlich und dennoch verlieren die Tarifvertragsparteien an Bindekraft und Mitgliedern.

Ein Blick auf aktuelle Befragungen verdeutlicht diese Diskrepanz zwischen Wertschätzung und tatsächlicher Beteiligung am System. Laut Auswertungen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) wurden 2019 mit 48 Prozent knapp die Hälfte der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt. Bei 41,6 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lag der Vergütung keine tarifvertragliche Bindung zugrunde, 10,5 Prozent konnten dazu keine verlässliche Angabe machen. In Westdeutschland gaben 48,5 Prozent der Befragten an, dass sie nach Tarifvertrag bezahlt werden. In Ostdeutschland fiel dieser Anteil mit 45,7 Prozent etwas geringer aus.

Unterschiede zeigten sich hinsichtlich des Alters, des Erwerbsstatus und der Unternehmensgröße. So stieg die Wahrscheinlichkeit einer Bezahlung nach Tarif mit zunehmendem Alter. Während unter 40-Jährige nur zu knapp 45 Prozent nach Tarif bezahlt wurden, erhielten bei den über 40-Jährigen mehr als 50 Prozent einen Tariflohn. Außerdem lag der Bezahlung bei geringfügig Beschäftigten mit 18,6 Prozent deutlich seltener ein Tarifvertrag zugrunde als bei Vollzeit- (50,3 Prozent), Teilzeitbeschäftigten (49,8 Prozent) oder Auszubildenden (47,8 Prozent). Zudem wurden Befragte in Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten mit 62,4 Prozent deutlich häufiger nach Tarifvertrag bezahlt als solche in kleinen und mittleren Unternehmen (29,7 Prozent). Zwischen Frauen und Männern fanden sich hingegen kaum Unterschiede.

Berücksichtigt wurden bei der Auswertung der SOEP-Daten Erwerbstätige in Vollzeit, Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung sowie Auszubildende. Zudem flossen nur Personen in die Stichprobe ein, die im Befragungsjahr jünger als 68 Jahre waren. Im Unterschied zu vergangenen SOEP-Wellen beschränkt sich die Abfrage seit 2018 darauf, ob dem Arbeitsverdienst eine tarifliche Bindung zugrunde liegt. Die frühere Unterscheidung nach Flächentarif, Haustarif, außertariflicher Bezahlung oder an einen Tarif angegliederte Entlohnung entfällt. Das SOEP ist derzeit jedoch die einzige jährliche Erhebung, in der die Beschäftigten selbst nach einer möglichen Tarifbindung ihres Verdienstes befragt werden. Im IAB-Betriebspanel und in der Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamts, also den beiden Quellen, die meist zur Ermittlung der Tarifbindungsquote herangezogen werden, wird der Anteil tarifgebundener Beschäftigter lediglich indirekt aus dem Tarifbindungsstatus der befragten Betriebe abgeleitet. So werden alle Beschäftigten eines tarifgebundenen Betriebs als tarifgebunden gezählt.

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Um die unmittelbare Tarifbindungsquote unter den Beschäftigten zu ermitteln, müsste neben dem Tarifbindungsstatus des Betriebs jedoch zusätzlich die Gewerkschaftsmitgliedschaft herangezogen werden. Denn Tarifverträge werden zwischen Gewerkschaften auf der einen und Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Unternehmen auf der anderen Seite geschlossen und gelten laut Tarifvertragsgesetz (§ 3 Abs. 1) nur für die Mitglieder dieser Organisationen. Unmittelbar und damit im engeren Sinne tarifgebunden sind somit nur Beschäftigte, die in einem tarifgebundenen Unternehmen arbeiten und gleichzeitig Mitglied einer Gewerkschaft sind (Lesch/Schneider/Vogel, 2021, 35 f.). Da lediglich 15,8 Prozent der Befragten eine Gewerkschaftsmitgliedschaft angaben, traf diese Kombination nur auf 12,4 Prozent und damit etwa ein Viertel der nach Tarif bezahlten Beschäftigten zu.

Dass die üblicherweise angegebene Tarifbindung im Jahr 2019 fast viermal höher ausfiel als diese unmittelbare Tarifbindung, ist den Arbeitgebern zu verdanken. Denn in Deutschland ist es in tarifgebundenen Betrieben üblich, alle Mitarbeiter nach Tarif zu bezahlen, egal, ob sie Mitglied einer Gewerkschaft sind oder nicht. Letztlich profitierten somit über ein Drittel (35,7 Prozent) der Beschäftigten von tarifvertraglichen Regelungen, ohne einen originären Anspruch zu haben und „direkter Teil“ des Tarifvertragssystems zu sein. 2,8 Prozent der befragten Personen erhielten hingegen trotz Gewerkschaftsmitgliedschaft keinen Tariflohn und weitere 38,8 Prozent waren weder in einer Gewerkschaft aktiv noch in einem Unternehmen mit tariflicher Bindung tätig.

Doch nicht nur die Diskrepanz zwischen nach Tarifvertrag bezahlten und aktiv am Tarifsystem beteiligten Beschäftigten ist groß. Trotz des aus der oben beschriebenen Entlohnungspraxis resultierenden Trittbrettfahrerproblems – warum sollte man einen Gewerkschaftsbeitrag zahlen, wenn man ohnehin nach Tarifvertrag bezahlt wird? – überrascht zudem die geringe Mitwirkung in Gewerkschaften vor dem Hintergrund der Einstellungen der Bevölkerung zu Gewerkschaften und Tarifverträgen. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach antworteten 74 Prozent auf die Frage, was die soziale Marktwirtschaft ausmache, „dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber faire Arbeitsbedingungen und Löhne aushandeln“ (IfD, 2021, 17). Ebenfalls große Zustimmung erhielt mit 61 Prozent die Antwortkategorie „Gewerkschaften, die sich wirksam für die Rechte von Arbeitnehmern einsetzen“. Befragt wurden Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren (IfD, 2021, 17). Tarifverträgen wird also genau wie den Gewerkschaften als notwendigen Akteuren ein hoher Stellenwert eingeräumt.

In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse einer im Sommer 2021 durchgeführten repräsentativen Befragung unter 1.038 Wahlberechtigten im Auftrag der Gewerkschaft ver.di. Dort bewerteten 86 Prozent der Befragten die abnehmende Tarifbindung als negativ oder stark negativ. Diese negative Bewertung einer großen Mehrheit der Wahlberechtigten bestand über alle Parteipräferenzen hinweg. Statt jedoch in Gewerkschaften einzutreten, um das Tarifsystem und damit auch die Tarifbindung zu stärken, sehen viele nicht sich selbst, sondern den Staat in der Pflicht. In der gleichen Umfrage stimmten zwei Drittel der Befragten der Aussage zu, dass der Staat eingreifen müsse, wenn immer mehr Unternehmen aus einer Tarifbindung aussteigen. Bei dieser Frage unterschieden sich die Antworten deutlich je nach Parteipräferenz. Während Anhänger der Linken zu knapp 90 Prozent und Anhänger von SPD und Grünen zu über 70 Prozent für Staatseingriffe plädierten, sprach sich bei Befürwortern von FDP und AFD mit 59 beziehungsweise 55 Prozent jeweils eine Mehrheit dagegen aus. Die Befragten mit CDU-Präferenz gaben zu 60 Prozent an, dass der Staat zur Stärkung der Tarifbindung eingreifen sollte (ver.di, 2021).

Die Bevölkerung schätzt die Institutionen des Tarifsystems somit zwar sehr, ist aber nicht bereit für deren Fortbestand einzustehen. Statt selbst durch einen Gewerkschaftsbeitritt die Voraussetzungen für ein funktionierendes Tarifsystem und eine stabile Tarifbindung zu schaffen, soll es der Staat richten. Dieser Ruf nach Staatshilfe verwundert hinsichtlich der geltenden Tarifautonomie und eines auf Freiheit ausgelegten Wirtschaftssystems. Doch nicht nur eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung sieht den Staat in der Pflicht. Auch die regierenden Parteien sehen sich seit einigen Jahren immer mehr in der Verantwortung, wenn es um die Stützung der Tarifbindung geht. So griff der Staat mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz und dem darin enthaltenen gesetzlichen Mindestlohn bereits 2015 direkt in die Lohnfindung ein. Die geplante politisch motivierte Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro untergräbt die Zuständigkeit der Tarifparteien im Bereich der Lohnsetzung weiter. Momentan verfolgt der Gesetzgeber damit eine Strategie der Ausweitung der Tarifgeltung auf Kosten der Autonomie der Tarifparteien und des Tarifsystems. Dabei läge es doch im Interesse von Politik und Gesellschaft, die das Tarifsystem tragenden Organisationen zu stärken. So gilt es, die große Wertschätzung, die Gewerkschaften und Tarifverträge genießen, auch in entsprechende Beteiligung und steigende Mitgliedszahlen umzuwandeln.

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