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Gero Kunath IW-Kurzbericht Nr. 72 26. September 2024 Chinas Inlandsnachfrage leidet an Long COVID

Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung nach der Corona-Pandemie blieb in China bisher hinter den Erwartungen zurück. Ein Grund dafür ist die schwache Inlandsnachfrage. Vor allem die strikte Null-COVID-Politik hat die chinesische Bevölkerung tief verunsichert und die Konsumlaune einbrechen lassen. Eine baldige Erholung ist nicht in Sicht.

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Chinas Inlandsnachfrage leidet an Long COVID
Gero Kunath IW-Kurzbericht Nr. 72 26. September 2024

Chinas Inlandsnachfrage leidet an Long COVID

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung nach der Corona-Pandemie blieb in China bisher hinter den Erwartungen zurück. Ein Grund dafür ist die schwache Inlandsnachfrage. Vor allem die strikte Null-COVID-Politik hat die chinesische Bevölkerung tief verunsichert und die Konsumlaune einbrechen lassen. Eine baldige Erholung ist nicht in Sicht.

Nationaltrauma COVID-19

Die COVID-19-Pandemie zwang weltweit Regierungen zu tiefen Eingriffen in das öffentliche Leben. Kaum ein Land ging dabei so weit wie China. Teils monatelange Lockdowns ganzer Stadtteile auch in den Wirtschafts-zentren des Landes sowie Geschäfts- und Grenzschließungen belasteten die chinesische Wirtschaft. Zwangsquarantänen in staatlichen Einrichtungen, Massentests und Kontaktüberwachungen verunsicherten die Bevölkerung zusätzlich. Nach einem Brand in einem Wohngebäude in der im Lockdown befindlichen Hauptstadt der Uigurischen Region Xinjiang, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen, gingen im November 2022 landesweit Menschen auf die Straße, um gegen die Null-COVID-Politik und die chinesische Führung zu protestieren. Die Kommunistische Partei reagierte schnell und lockerte die drakonischen Maßnahmen. Die Proteste, die als umfangreichste Proteste seit der Demokratiebewegung auf dem Tian‘anmen-Platz im Jahr 1989 zählten, zeigen: Die Pandemie hinterließ ein nationales Trauma. Eine politische und gesellschaftliche Aufarbeitung fand bisher nicht statt. Die chinesische Führung will die kollektive Erinnerung eher verblassen lassen.

Konsumlaune am Tiefpunkt

Die tiefe Verunsicherung, welche die Zeit der Pandemie in der chinesischen Bevölkerung hinterlassen hat, wird bei Betrachtung des Indexes für Konsumentenvertrauen (Consumer Confidence Index) der Nationalen Statistikbehörde Chinas deutlich (Abbildung). Nie war die Konsumlaune der chinesischen Bevölkerung schlechter – weder während der Asienkrise im Jahr 1998 noch während der Weltfinanzkrise 2008. Der Index nimmt Werte zwischen 0 (extrem pessimistisch) und 200 (extrem optimistisch) an, wobei 100 die kritische Marke zwischen Pessimismus und Optimismus markiert.

Zwischen Februar und April 2022 brach der Index um 33,8 Punkte von vormals 120,5 auf 86,7 ein. Der Einbruch folgte einem Einbruch des Stimmungsindikators für den Immobilienmarkt Ende 2021 und fiel zeitlich zusammen mit einem umfassenden Lockdown der Wirtschaftsmetropole Shanghai. Im zweiten Quartal 2022 erreichte auch das Wirtschaftswachstum gegenüber dem Vorjahresquartal mit 0,4 Prozent einen historischen Tiefststand nach Angaben des Nationalen Statistikbüro Chinas. Seitdem hat sich die Konsumentenlaune nicht verbessert: Im Juni 2024 lag der Index bei 86,2 Punkten und damit noch einmal tiefer als nach dem Einbruch während der Pandemie.

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Die Inlandsnachfrage erholt sich nicht – sie leidet sozusagen an Long COVID. Dafür gibt es viele Gründe:

Die Pandemie markierte für viele Haushalte in China eine finanzielle Zäsur mit anhaltenden Folgen. Millionen Beschäftigte wurden entlassen, temporär beurlaubt oder mussten ihre wöchentlichen Arbeitsstunden deutlich reduzieren. Selbst für Beschäftigte, die nicht mittelbar von der Pandemie betroffen waren, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Arbeitslosigkeit (Wang, 2020). Das soziale Sicherungsnetz in China konnte diese Einkommensverluste und Unsicherheiten kaum auffangen. Im Jahr 2020 waren beispielsweise nur etwa 217 Millionen Beschäftigte durch eine Arbeitslosenversicherung abgedeckt – das entspricht lediglich 28,9 Prozent der insgesamt mehr als 750 Millionen Beschäftigten im Land (China Labour Bulletin, 2021; Nationales Statistikbüro Chinas, 2021). Auch die monatlichen Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung für die wenigen Bezieher fielen im Jahr 2020 mit durchschnittlich 1.506 Yuan (knapp 200 Euro) niedrig aus und konnten Einkommensverluste kaum ausreichend kompensieren (China Labour Bulletin, 2021). Trotz großer Bemühungen der chinesischen Regierung, die Löcher des Sozialsystems während der Pandemie zu stopfen, dürfte diese Zeit die Ersparnisse vieler chinesischer Haushalte verringert und die finanzielle Unsicherheit erhöht haben.

Für zusätzliche Verunsicherung sorgt die seit Längerem schwelende Immobilienkrise. Sie bringt die Wertanlagen vieler Chinesinnen und Chinesen zunehmend ins Wanken. Die jahrelang steigenden Immobilienpreise machten den Wohnungskauf als Altersabsicherung und Sparanlage lange attraktiv. Schätzungen zufolge investierten chinesische Haushalte zwischen 60 bis 80 Prozent ihres Vermögens in den Immobiliensektor (García-Herrero, 2023; Wright et al., 2024). Die Insolvenzen großer Immobilienentwickler wie Evergrande und Country Garden sowie der anhaltende Preisverfall von Immobilien dürften daher bei vielen Chinesinnen und Chinesen zu großen Sorgen über ihre finanzielle Sicherheit geführt haben.

Während die Konsumlaune am Tiefpunkt ist, hat Sparen Hochkonjunktur – eine Reaktion auf die grassierende Verunsicherung in der chinesischen Bevölkerung – trotz Leitzinssenkungen. Im Rahmen einer Befragung der chinesischen Zentralbank gaben im ersten Quartal 2024 rund sechs von zehn Befragten an, mehr sparen zu wollen – nur rund zwei von zehn Befragten wollten mehr konsumieren.

Ungenutztes Wachstumspotenzial

Die getrübte Konsumlaune hat weitreichende Folgen für die chinesische Wirtschaft. Unter anderem trägt sie zu den Überkapazitäten von Gütern wie Elektrofahrzeugen bei, was für Spannungen im internationalen Handel sorgt. Vor allem aber stellen sie ein großes ungenutztes Wachstumspotenzial dar.

Das investitionsgetriebene Wachstumsmodell Chinas kommt langsam an seine Grenzen. Die hohe Verschuldung des Landes verkleinert den finanziellen Spielraum für große Investitionsprojekte, die bisher ein beliebtes Mittel der chinesischen Regierung waren, um Krisen zu bekämpfen. Für ein neues Momentum könnte daher der private Konsum sorgen, der in China im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften eine geringe Rolle spielt. Laut Angaben der Weltbank machte er in China im Jahr 2022 nur 37,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus – in den USA waren es 68 Prozent. Besonderes Potenzial bietet der Dienstleistungssektor, der bisher nur rund die Hälfte zur Bruttowertschöpfung der chinesischen Wirtschaft beiträgt – rund 25 Prozentpunkte weniger als in anderen entwickelten Volkswirtschaften. Er könnte besonders junge Menschen in den Bereichen unternehmensnahe Dienste und Bildung in Beschäftigung bringen und helfen, den ökologischen Fußabdruck der chinesischen Wirtschaft zu senken (Jain-Chandra et al., 2024).

Die chinesische Regierung hat das Wachstumspotenzial des Dienstleistungssektors erkannt und will unter anderem den Tourismus stärken. Auch der private Konsum von Waren wie PKW soll durch verschiedene Maßnahmen gestärkt werden (Staatsrat der Volksrepublik China, 2024). Damit diese erfolgreich sind, muss die chinesische Regierung jedoch zusätzlich die Unsicherheit der Konsumenten eindämmen. Dafür braucht es vor allem eine Verbesserung der Abdeckung und des Umfangs des sozialen Sicherungsnetzes sowie einen verbesserten Zugang für Haushalte zu rentablen und risikoärmeren Anlageformen für die private Absicherung.

Das kürzlich gehaltene Dritte Plenum, bei dem der Wirtschaftskurs für die kommenden fünf Jahre besprochen wurde, lässt ersten Einschätzungen zufolge wenig Impulse erwarten. Die chinesische Regierung behält für das Wirtschaftswachstum weiterhin vor allem die Produzenten und weniger die Konsumenten im Blick.

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