Doch kein Fachkräftemangel? Neue Ausführungen des Bundesarbeitsministeriums lesen sich so, als sei die Lage nicht allzu dramatisch. Dabei bleibt nicht nur die unternehmerische Realität unbeachtet, sondern auch die Statistik wird verkürzt interpretiert.
Fachkräftemangel: Lücke lässt sich nicht wegdiskutieren
In Deutschland gibt es keinen umfassenden Fachkräftemangel – zumindest liest es sich so in einer Antwort, die das Bundesarbeitsministerium auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag erstellt hat. Belege dafür sieht das Ministerium in aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) vom vergangenen Dezember: Bei 118 von 144 Berufsgruppen gebe es laut Statistik mehr Arbeitslose als gemeldete Stellen. Die Schlussfolgerung des Ministeriums: Es müsste in vielen Bereichen ausreichend Fachkräfte geben. Die Logik hat gleich mehrere Haken: Zum einen widerspricht das den Erfahrungen der Unternehmen, die immer weniger passende Bewerbungen erhalten. Die methodischen Annahmen entsprechen zudem nicht dem üblichen Vorgehen. Wichtig ist es, diese zwei Punkte zu berücksichtigen:
1. Die gemeldeten Stellen zeigen nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Nachfrage.
Bei den vom Ministerium berücksichtigten Stellen handelt es sich nur um solche, die von den Unternehmen bei der BA gemeldet werden. Allerdings melden nicht alle Betriebe alle Stellen – gerade in Mangelberufen wie der Pflege gibt es oft deutlich mehr Nachfrage als Stellenausschreibungen. Viele Unternehmen nutzen Online-Stellenportale, dadurch ist der Anteil der gemeldeten Stellen in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken und liegt laut IAB-Stellenerhebung 2022 bei 44 Prozent. Nur etwa vier von zehn offenen Stellen tauchen in der BA-Statistik auf. Tatsächlich gibt es also mehr als doppelt so viele offene Stellen.
2. Arbeitslose und offene Stellen einer Berufsgruppe passen nicht immer zusammen.
In den Berufsgruppen werden aus statistischen Gründen Berufe mit ähnlicher fachlicher Ausrichtung, aber unterschiedlicher Qualifikation zusammengefasst. Beispielsweise sind Uhrmachergehilfen und Waffen- oder Maschinenbauingenieure in derselben Berufsgruppe ausgewiesen, auch wenn sie ganz unterschiedliche Tätigkeiten ausüben. Bei der Berechnung von Fachkräftelücken ist es daher wichtig, nicht nur Berufsgruppen, sondern auch Berufe und ihr Qualifikationsniveau zu betrachten.
Für mehr als eine halbe Million Stellen fehlen passende Bewerber
Das IW errechnete für Dezember 2022 bundesweit eine Fachkräftelücke von 533.000 Stellen (ohne Helfertätigkeiten), für die es keine passend qualifizierten Bewerber gab. Grundlage dieser Berechnung ist ein Vergleich von offenen Stellen und Arbeitslosen für jeden einzelnen Beruf. Dabei wird nicht nur die fachliche Ausrichtung berücksichtigt, sondern auch die Qualifikation der ausgeschriebenen Stelle und der konkreten Tätigkeit. Nach IW-Berechnungen gab es im Dezember in 959 von etwa 1.300 Berufen mehr offene Stellen als Arbeitslose. In 107 von 144 Berufsgruppen besteht in mindestens einem der zugehörigen Berufe eine Fachkräftelücke.
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