Seit Januar 2023 ist Hartz IV Geschichte. Der Nachfolger heißt Bürgergeld. Nach viel Kritik einigte sich die Ampel mit der CDU/CSU auf eine angepasste Neuregelung. Die final beschlossene Form des Bürgergeldes findet nicht einhelligen Beifall, obwohl die SPD von ihren ursprünglichen Vorstellungen abrückte. IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer äußert im Interview mit FOCUS online einige Vorbehalte.
Kritik am Bürgergeld: „Das Schonvermögen ist zu hoch”
Herr Schäfer, wie bewerten Sie den Kompromiss beim Bürgergeld?
Das ist eine ganz verträgliche Reform. Das ein oder andere sehe ich aber nach wie vor kritisch.
Was stört Sie konkret?
Die Neuregelung zur Anrechnung von Vermögen ist großzügiger als die vorherige Regelung bei Hartz IV.
Wie sehen Sie die Bestimmungen bei den Sanktionen? Die eigentlich geplante komplette Aussetzung kam ja nicht.
Die Vertrauenszeit wurde zwar gestrichen und die Frage der Sanktionen neu gefasst. Da muss man natürlich in dem Rahmen bleiben, den das Bundesverfassungsgericht vorgibt. Aber die Richter hatten ausdrücklich die Möglichkeit offengelassen, Leistungen ganz zu streichen. Etwa bei der Weigerung, eine angebotene Stelle anzunehmen. So ein Schritt wäre mit dem Verfassungsgerichtsurteil vereinbar. Von dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht.
Ansonsten bleibt als weiterer Kritikpunkt die aus unserer Sicht unzureichende Neuregelung des Erwerbsfreibetrages. Dabei sei der Bundesregierung zugestanden, dass sie bereits im Gesetzentwurf angekündigt hat, das Thema noch einmal angehen zu wollen. Da kommen wohl bessere Regeln.
Dieser Erwerbsfreibetrag steigt im Juli 2023 auf 348 Euro. Das ist Ihnen zu wenig?
Es geht um die Frage: Wie kann ich Erwerbseinkommen mit Transfereinkommen wie Bürgergeld kombinieren? Die Kombination sollte so gestaltet sein, dass sich Mehrarbeit in jedem Fall auch lohnt. Dass man das Arbeiten also im Geldbeutel spürt. Manche Konstellationen sind in der Hinsicht nicht attraktiv. Wer beispielsweise Teilzeit arbeitet, hat relativ wenig Anreize, aus der Teilzeitbeschäftigung in einen Vollzeitjob zu wechseln. Da gibt es noch Verbesserungspotential.
Wird die Ampel in diesem Punkt nachbessern?
Das glaube ich schon. Im Gesetzentwurf zum Bürgergeld steht, dass die Neuregelung des Erwerbsfreibetrags noch nicht die endgültige Lösung darstellt. Dazu will man noch einmal grundlegend beraten, wie man diesen Erwerbsfreibetrag neu gestaltet.
Geht es um eine Anhebung der aktuellen Sätze?
Nicht nur. Eine reine Erhöhung hat möglicherweise nicht die Wirkung, die man haben will. Das Problem ist ja, dass sich Teilzeitbeschäftigung durchaus lohnt – aber nicht der Wechsel aus Teilzeit in Vollzeit. Die Betroffenen bleiben dann in Teilzeit oder sogar in geringfügiger Beschäftigung. Das Problem löse ich nicht mit einer einfachen Anhebung der Freibeträge.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Die Politik müsste die Freibeträge umgestalten. Etwa die Freibeträge für Vollzeitbeschäftigte deutlich erhöhen. Oder man senkt die Freibeträge für kleinere Einkommen – also im Bereich geringfügiger Beschäftigungen –, um Spielraum zu haben, höhere Freibeträge gewähren zu können bei Vollzeit-Tätigkeiten.
In Ihrer Stellungnahme zu den Ampel-Plänen kritisierten Sie 2022 auch, dass das Bürgergeld verglichen mit Hartz IV eine „Ausweitung auf Nicht-Bedürftige“ bedeutet. Halten Sie an der Kritik fest?
Die Ausweitung betrifft in erster Linie die Voraussetzungen, die man erfüllen muss, um einen Bürgergeld-Anspruch zu haben. Da wurde an zwei Stellen gedreht: Zum einen bei der Frage der Vermögensanrechnung. Und dann bei der Frage der Kosten der Unterkunft. An der Kritik halte ich fest, auch wenn sich das Ausmaß der Fehlsteuerung durch die Kompromisse im Vermittlungsausschuss verringert hat.
Die Erhöhung des Schonvermögens beim Bürgergeld halte ich für schlecht begründet. Bei der alten Regelung reichte das Schonvermögen bereits in den Bereich mittlerer Vermögen. Deshalb sehe ich keinen Grund, dass der Betrag beim Bürgergeld erhöht wurde.
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