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Kinder gehen zur Schule, zwei Mädchen laufen und ein Junge im Rollstuhl, hintere Ansicht.
Axel Ekkernkamp* / Michael Hüther im Tagesspiegel Gastbeitrag 2. November 2024

Inklusion an Schulen: Lasst den Eltern das Wahlrecht!

Alle Kinder in eine Schule? Die Politik fordert das. Sie will keine Förderschulen mehr. Aber die eine Schule für alle ist nicht unbedingt die beste Antwort, schreiben IW-Direktor Michael Hüther und Axel Ekkernkamp, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer Unfallkrankenhaus Berlin, in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel.

Es gibt wohl wenige Themen, bei denen eine Differenzierung oder gar vorsichtige Kritik so einmütig und eindeutig auf Ablehnung stößt wie Inklusion im Bildungsbereich – nahezu unisono in allen gesellschaftlichen Richtungen und allen politischen Lagern. Gutgemeinte politische Vorgaben erlangen eine Kraft der Selbstverständlichkeit, gegen die kaum anzukommen ist. In diesem Fall bedeutet es die Absage an das System der Förderschulen, leichthin wird der Abbau dieses Schultyps gefordert.

Grundsätzlicher Ausgangspunkt der intensiven gesellschaftlichen Debatte ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006, aktuell im Fokus steht der periodische UN-Bericht zu deren Umsetzung für Deutschland vom Oktober 2023. Das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen wird für die Bildung (Artikel 24) so konkretisiert, dass Menschen mit Behinderung ebenbürtig Zugang zu einem integrativen (inklusiven), hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben. Es sollen angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse der Einzelnen getroffen und Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung gewährt werden.

Programmatische Differenzierung als neuer Schwerpunkt

Ausgehend von der UN-Konvention hat sich ein Streit darüber zugespitzt, ob die Förderschulen weiter eine angemessene Antwort sein können. Mit historischen Bezügen auf Hitler-Deutschland (Reichsarbeitsdienst, Jugend-KZ) und die DDR (Jugendwerkhöfe, Spezialkinderheime) wird eine Extremposition begründet, die jede institutionelle Besonderheit der Förderschulpädagogik ablehnt und den Eltern sogar ein entsprechendes Wahlrecht verwehrt. Die Behindertenbeauftragten in den Bundesländern haben 2022 entsprechend gefordert, Parallelstrukturen zwischen Förderschulbesuch und inklusiver Beschulung zugunsten letzterer konsequent abzubauen und weitestgehend aufzulösen.

Die Kritik am Förderschulsystem wird mit dem Vorwurf in Verbindung gebracht, in der deutschen Bildungspolitik herrsche eine „Homogenitätsideologie“, die für das allgemeinbildende Schulsystem eine Aussonderung von Kindern mit Behinderung vorsehe. Interessanterweise wird darauf mit einer institutionellen Homogenitätsvorstellung geantwortet, nach der die gleiche Schule – die Gesamtschule lässt grüßen – zu gleichen Ergebnisse führe. Die Erfahrungen der Bildungsreformen aus den vergangenen fünf Jahrzehnten lehren indes, dass an die Stelle dieser Gleichheitsideologie aus guten Gründen die Perspektive programmatischer Differenzierung für stärker autonome Schulen sowie individueller Förderung und Förderpläne im Unterricht mit regelmäßigen Lernstandserhebungen getreten ist.

Wer sich von Ergebnissen des Bildungssystems in seiner vielfältigen Gliederung und regionalen Differenzierung leiten lässt, kann bei der Inklusion das Wahlrecht der Eltern nicht außer Acht lassen. Man wird die Erziehungsverantwortung der Eltern – bei aller Dualität im Zusammenspiel mit dem Staat – nicht negieren können. Tatsächlich lassen die Kritiker des Förderschulsystems sich stets eine Tür offen, wenn davon die Rede ist, dass dieses System „weitestgehend“ aufzulösen ist. Darin verbirgt sich der Befund, dass es selbst bei umfassender institutioneller Inklusion Fälle mit besonderem Förderbedarfe gibt, die gesondert zu beantworten sind. Ist es aber fair, wenn dann am Ende nur noch wenige und kleine Förderschulen übrig sind, an denen die am meisten belasteten Kinder unter sich bleiben?

Sollte es nicht vielmehr darum gehen, anzuerkennen, dass es nicht nur ein Kontinuum von Fähigkeiten und Befähigungen gibt, sondern ebenso von Einschränkungen und Behinderungen – von der Beeinträchtigung des Lernens, der Sprache und des Sprechens, der emotionalen und sozialen Entwicklung bis hin zur geistigen Behinderung?

Entsprechend dieser Einschränkungen ergeben sich völlig unterschiedliche förderpädagogische Herausforderungen. Das führt aber nicht nur zu unterschiedlichen individuellen Betreuungsbedarfen, sondern ebenso zu divergierenden Anforderungen an die Kompetenzentwicklung der Lehrer sowie an die infrastrukturelle Ausstattung von Schulen, und zwar ganz abgesehen von den Bedingungen der Barrierefreiheit. Es bedarf mitunter der räumlichen Verbindung von schulischer Arbeit und physiotherapeutischer Betreuung, ergonomischer Unterstützung sowie medizinischer Intervention.

Das kann bei weitem nicht überall geleistet werden. Die Gebäude des allgemeinbildenden Schulsystems sind jedenfalls weit davon entfernt, dies absehbar ermöglichen zu können – ganz abgesehen davon, ob sie es sollten. Sie sollten es nicht, weil nicht alle für die gleichen pädagogischen Herausforderungen gedacht sind, und sie sind es unabhängig von den baulichen Voraussetzungen nicht, weil es aus guten Gründen unterschiedliche Angebote inhaltlicher und zeitlicher Art gibt: Schulen mit Ganztagsangebot stehen neben solchen ohne, MINT-freundliche Schulen neben solchen mit dem Schwerpunkt kulturelle Bildung usw. Schulprogramme dienen – seit einiger Zeit schulgesetzlich geregelt – der langfristigen pädagogischen Schulentwicklung und werden extern sowie intern evaluiert.

Solche programmatische Schwerpunktbildung eröffnete den Förderschulen eine transparente und nachvollziehbare Spezialisierung, bei der insbesondere die Bedeutung der Berufsorientierung zunehmend in den Vordergrund trat. So zeigt die Realität der heute existierenden Förderschulen nicht nur die Öffnung für verschiedene Arten von Einschränkungen und den Fortschritt der entsprechenden pädagogischen Forschung, sondern ebenso den Erfolg der Berufsorientierung.

Der Grundsatz, dass am Ende der förderpädagogischen Begleitung ein regulärer Schulabschluss steht, sollte unbestritten sein. Seine Realisierung verlangt aber gerade die sonderpädagogische Expertise und eine entsprechende Qualitätssicherung.

Die ideologiegetriebene oder oft einfach unbedacht nacherzählte Kritik am Förderschulwesen übersieht, dass mit dessen Schaffung in den 1960er-Jahren erstmals Kinder mit Behinderungen Teilhabe an Bildung erhielten und ihnen damit erfolgreich der Weg durch das Bildungssystem zu einem gelingenden gesellschaftlichen Leben eröffnet wurde. Die Entwicklung der Förderschulen spiegelt sich in der Öffnung der allgemeinbildenden Schulen für integrative Konzepte.

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