Seit Mitte des letzten Jahres verstärken sich Engpass-Symptome in pharmazeutischen Kernberufen. Eine demografiebedingte Verstetigung der Entwicklung kann perspektivisch zu Standortnachteilen für Unternehmen der Branche führen.
Verschärfte Engpass-Symptome in pharmazeutischen Kernberufen
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Seit Mitte des letzten Jahres verstärken sich Engpass-Symptome in pharmazeutischen Kernberufen. Eine demografiebedingte Verstetigung der Entwicklung kann perspektivisch zu Standortnachteilen für Unternehmen der Branche führen.
In den Jahren 2020 und 2021 führte die Corona-Pandemie zu einer leichten Entspannung auf dem Arbeitsmarkt, da zum einen weniger Stellen ausgeschrieben wurden und zeitgleich mehr Arbeitslose zur Verfügung standen, um offene Stellen zu besetzen. Mit der inzwischen weniger angespannten pandemischen Situation wurden wieder vermehrt Stellen ausgeschrieben. Doch der steigende Nachfrage vieler Unternehmen stehen häufig keine passend qualifizierte Arbeitslose in ausreichender Anzahl gegenüber (Hickmann/Malin, 2022).
Die steigende Arbeitskräftenachfrage zeichnet sich aktuell auch in pharmazeutischen Kernberufen ab und verschärft die Engpass-Symptomatik deutschlandweit. Als Kernberufe sind 20 der 205 pharmarelevanten Berufe definiert, die besonders essenziell für die Ausübung branchenspezifischer Tätigkeiten in der Arzneimittelforschung und -produktion sind. Bislang waren pharmazeutische Unternehmen in einem geringeren Maße von Stellenbesetzungsschwierigkeiten betroffen als Unternehmen anderer Branchen. Insbesondere in Berufen wie der IT und Softwareentwicklung, in denen die Branche in starker Konkurrenz um die wenigen verfügbaren Arbeitskräfte steht, zeichneten sich jedoch nationale Arbeitskräfteengpässe ab, die alle Branchen betreffen. In branchenspezifischen Berufen zeigten sich zudem erste Schwierigkeiten in der regionalen Stellenbesetzung. (Kirchhoff/Malin/Schumacher, 2022)
Rund 277.000 qualifizierte Beschäftigte arbeiteten 2021 in Pharma-Kernberufen, von diesen waren über 50.000 direkt in der Pharmaindustrie beschäftigt. Zwischen Juli 2021 und Juni 2022 kamen in Pharmakernberufen unabhängig von der beruflichen Passung 8.000 Arbeitslose auf 6.400 offene Stellen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 waren es noch 8.200 qualifizierte Arbeitslose auf 4.800 offene Stellen (Abbildung). Demnach wurden rund 20 Prozent mehr Stellen ausgeschrieben als im Jahr 2019, während 2 Prozent weniger qualifizierte Arbeitslose zur Verfügung standen.
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Nach einem pandemiebedingten Rückgang offener Stellen legte die Arbeitskräftenachfrage in Pharma-Kernberufen ab der zweiten Jahreshälfte 2021 besonders stark zu und verstärkte die bereits seit 2016 anhaltende Entwicklung (Abbildung). Wird die berufliche Passung zwischen der Qualifikation der Arbeitslosen und der Anforderung der offenen Stellen berücksichtigt, lag in Pharma-Kernberufen der Anteil der offenen Stellen für die es rechnerisch bundesweit keinen passend qualifizierten Arbeitslosen gab (Stellenüberhangsquote) zwischen Juli 2021 und Juni 2022 bei etwa 11 Prozent. Zur ausführlichen Beschreibung der Methodik zur Berechnung des Fachkräftemangels s. Burstedde et al. (2020).
Dieser Mangel an passend qualifizierten Arbeitslosen besteht vorrangig bei Chemie- und Pharmatechniker:innen auf Fachkraftniveau mit Berufsausbildung und auf Expertenniveau mit Master oder Diplom. In anderen Berufen wie den Expert:innen der Biologie und des biotechnologischen Laboratoriums deuten aktuelle Entwicklungen darauf hin, dass sich auch hier in Zukunft rechnerische Fachkräftelücken bilden können.
Chemie- und Pharmatechniker:innen beider Qualifikationsniveaus sind in der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln für den reibungslosen Ablauf pharmazeutischer Produktionsprozesse verantwortlich. Daneben finden Chemie- und Pharmatechniker:innen Anstellung vor allem in den Wirtschaftszweigen der Chemie sowie der Forschung und Entwicklung. Fachkräfte der Chemie- und Pharmatechnik haben eine Ausbildung als Pharmakant:in, Chemikant:in oder Produktionsfachkraft Chemie abgeschlossen. Zu den Expert:innen zählen insbesondere Ingenieursberufe mit einer chemischen oder pharmazeutischen Spezialisierung. Im Jahr 2021 arbeiten mit knapp 20.000 Beschäftigten etwa 20 Prozent aller Fachkräfte direkt in der Pharmabranche. Unter den Expert:innen ist der Anteil der Pharmabeschäftigten mit 10 Prozent zwar niedriger, aber gleichwohl bedeutend.
Seit 2011 sind Fachkräfte der Chemie- und Pharmatechnik dauerhaft von einem bundesweiten Engpass betroffen. Zwischen Juli 2021 und Juni 2022 fehlten rein rechnerisch für 32 Prozent der offenen Stellen passend qualifizierte Arbeitslose. Damit liegt diese Stellenüberhangsquote zwar noch unterhalb des Vorkrisenniveaus von 41 Prozent im Jahr 2019, doch die Situation könnte sich demografiebedingt weiter schnell verschärfen – denn knapp ein Viertel aller Fachkräfte der Chemie- und Pharmatechnik sind über 55 Jahre alt.
Unternehmen können im dualen Ausbildungssystem mit ihrem Ausbildungsplatzangebot auf den Strukturwandel reagieren und tun dies auch bereits. So ist das Ausbildungsplatzangebot in Berufen mit anhaltendem Fachkräftemangel fast kontinuierlich gestiegen. Lediglich die Corona-Pandemie sorgte in den Jahren 2020 und 2021 für einen vorübergehenden Rückgang (Jansen/Hickmann/Werner, 2022). Diese Entwicklung zeigt sich ebenfalls in der Chemie- und Pharmatechnik – zwischen 2015 und 2019 hat sich die Zahl der angebotenen Ausbildungsstellen um 13 Prozent erhöht. Die Ausbildungsplatznachfrage ist im selben Zeitraum nur um 10 Prozent gestiegen. Erst im Jahr 2020 sanken pandemiebedingt sowohl das Ausbildungsangebot als auch die Ausbildungsnachfrage.
Unter den Expert:innen der Chemie- und Pharmatechnik ist der starke Anstieg der Stellenüberhangsquote auf eine massive Ausweitung der offenen Stellen zwischen Juli 2021 und Juni 2022 zurückzuführen. Seit 2015 ist die Zahl der offenen Stellen für Expert:innen der Chemie- und Pharmatechnik um 66 Prozent gestiegen, während die Zahl der Arbeitslosen um 19 Prozent abnahm. Dadurch konnten im Jahresdurchschnitt 140 offene Stellen rechnerisch nicht mit passend qualifizierten Arbeitslosen besetzt werden – das entspricht mehr als einem Viertel aller offenen Stellen im Beruf.
Der demografische Wandel bedroht die Arbeitsmarktsituation auf dem Expertenniveau noch deutlicher als unter den Fachkräften: 36 Prozent aller Beschäftigten sind über 55 Jahre alt und stehen im Laufe des kommenden Jahrzehnts vor dem Renteneintritt. Die Nachwuchsqualifizierung in Expertenberufen, die meist den akademischen Grad eines Masters oder Diploms voraussetzen, sind schwierig zu erfassen, denn die entsprechenden Studiengänge unterliegen nur selten einem klaren Berufsprofil, wodurch berufsspezifische Einordnungen kaum möglich sind.
Nach wie vor haben pharmazeutische Unternehmen vorrangig Schwierigkeiten in der Stellenbesetzung bei Berufen, in denen sie in starker Konkurrenz mit Unternehmen anderer Branchen um das entsprechend qualifizierte Personal stehen (Kirchhoff/Malin/Schumacher, 2022). Doch seit Mitte des letzten Jahres wird die Stellenbesetzung auch in pharmazeutischen Kernberufen schwieriger. Bislang ist die Frage, ob es sich um einen vorübergehenden Corona-Nachholeffekt oder ein strukturelles Problem für die Branche handelt, nicht zu beantworten. Voraussichtlich werden sich Fachkräfteengpässe aber auch in den pharmazeutischen Kernberufen ausweiten, denn der demografische Wandel trägt berufsfeldübergreifend zu einer Abnahme des Fachkräftepotenzials in Deutschland bei (Schäfer, 2022).
Eine Verstetigung dieser Entwicklung und daraus resultierende Engpässe in weiteren für die Arzneimittelforschung und -produktion essenziellen Berufen wiegt für die pharmazeutischen Unternehmen besonders schwer. Denn ohne die entsprechenden Beschäftigten können weder die Forschung und Entwicklung noch die Produktion in Deutschland aufrechterhalten werden – das kann zum Standortnachteil führen. Zum anderen sind bildungs- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Fachkräftesicherung in hochspezialisierten Berufen schwieriger umzusetzen, etwa weil eine verbesserte Berufsorientierung in Schulen nicht zwingend zu einem höheren Interesse an Engpassberufen führt und es lange Jahre brauch, bis entsprechend qualifizierte Nachwuchskräfte am Arbeitsmarkt ankommen.
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