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Thomas Obst / Dan Schläger IW-Kurzbericht Nr. 33 29. Mai 2021 Kosten-Nutzen Überlegungen zu Lockdowns – was übersehen wir?

Ein länderübergreifender Vergleich zeigt ähnliche Verhaltensanpassungen von Individuen trotz unterschiedlicher Lockdown-Maßnahmen. In Deutschland ging die Mobilität während des ersten Lockdowns 2020 um 45 Prozent zurück, in Schweden sank sie im gleichen Zeitraum um 27 Prozent. Eine umfassendere Kosten-Nutzen-Analyse ist entscheidend, um die Wirksamkeit und verursachte Kosten von Lockdowns besser bewerten zu können.

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Kosten-Nutzen Überlegungen zu Lockdowns – was übersehen wir?
Thomas Obst / Dan Schläger IW-Kurzbericht Nr. 33 29. Mai 2021

Kosten-Nutzen Überlegungen zu Lockdowns – was übersehen wir?

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Ein länderübergreifender Vergleich zeigt ähnliche Verhaltensanpassungen von Individuen trotz unterschiedlicher Lockdown-Maßnahmen. In Deutschland ging die Mobilität während des ersten Lockdowns 2020 um 45 Prozent zurück, in Schweden sank sie im gleichen Zeitraum um 27 Prozent. Eine umfassendere Kosten-Nutzen-Analyse ist entscheidend, um die Wirksamkeit und verursachte Kosten von Lockdowns besser bewerten zu können.

Seit dem Ausbruch der Corona-Krise haben Regierungen versucht, die negativen Folgen der Ausbreitung des Virus zu bekämpfen und gleichzeitig die damit verbundenen ökonomischen und sozialen Kosten gering zu halten. Es wurden jedoch kaum Ansätze vorgelegt, die beide Ziele systematisch miteinander verknüpfen, so dass die politischen Entscheidungsträger oft einen "Einheitsansatz" mit umfassenden Verboten wählten, die das soziale und wirtschaftliche Leben stark beeinträchtigt haben. Wenn es um die entscheidende Frage der Wahl einer angemessenen Politikstrategie geht, ist aber eine sorgfältige Abwägung von Zielkonflikten (Trade-Offs) unverzichtbar (Bardt und Hüther, 2021). Ronald Coase (1960, S. 44) drückte es treffend aus:

“It would clearly be desirable if the only actions performed were those in which what was gained was worth more than what was lost. But in choosing between social arrangements within the context of which individual decisions are made, we have to bear in mind that a change in the existing system which will lead to an improvement in some decisions may well lead to a worsening of others.... In devising and choosing between social arrangements we should have regard for the total effect.”

Tatsächlich ist die Forschung kritischer geworden, was die Wirksamkeit und die Trade-Offs angeht, die mit Lockdowns, allgemein als nicht-pharmazeutische Interventionen (NPIs) bezeichnet, verbunden sind. Aktuelle Covid-19-Studien zeigen, dass der Nutzen (Verringerung der Fallübertragungen und der Sterberaten) möglicherweise überschätzt und die ökonomischen und sozialen Kosten des Lockdowns unterschätzt wurden. Neuere Arbeiten versuchen daher, die wichtige Frage nach dem Gesamteffekt stärker zu diskutieren und wohlfahrtssteigernde Alternativen im Vergleich zum Einheitsansatz aufzuzeigen.

Der Nutzen von NPIs wird allgemein als erfolgreiches Absenken der Reproduktionszahl sowie Übertragungsrate von Covid-19 definiert. Born et al. (2021) stellen beispielsweise fest, dass die Einführung eines 9-wöchigen Lockdowns in Schweden in der ersten Hälfte des Jahres 2020 die Infektionen um 75 Prozent reduziert hätte und nur einen geringen zusätzlichen Outputverlust verursacht hätte. Die Studie umreißt jedoch nur grob die wirtschaftlichen Kosten und ignoriert die sozialen Kosten.

 

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Eine Reihe neuerer Studien argumentieren, dass die Bedeutung der Rolle von NPIs bei der Beeinflussung des Verlaufs der Pandemie möglicherweise überbewertet wurde. Atkeson et al. (2020) zeigen, dass in der frühen Phase der Pandemie die Übertragungsraten von Covid-19 weltweit fast durchgängig zurückgingen, während die regionsspezifischen NPIs in ihrem Grad der Strenge unterschiedlich ausfielen. Während NPIs typischerweise das Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen beinhalteten, verbot Schweden nur Versammlungen von mehr als 50 Personen. Deutschland empfahl lediglich soziale Kontakte zu vermeiden. Andere Länder wie Frankreich oder Italien ordneten hingegen an, zu Hause zu bleiben (Born et al., 2021).

Trotz der Unterschiede in den NPIs zwischen Deutschland und Schweden zeigt ein Blick auf die Mobilitätstrends ähnliche dynamische Verhaltensanpassungen der Individuen (Abbildung), was auf eine erhebliche freiwillige soziale Zurückhaltung hindeutet. Die Zahl der Besucher von Bahnhöfen, Arbeitsplätzen sowie Orten des Einzelhandels und der Freizeitgestaltung ging in beiden Ländern im März 2020 stark zurück und stieg erst in den Sommermonaten wieder deutlich an, mit Ausnahme der Zahl der Besucher von Arbeitsplätzen in Schweden, die zunächst hinter dem erneuten Anstieg in Deutschland zurückblieb, danach aber in etwa dem gleichen Muster folgt. Trotz der unterschiedlichen Niveaus bei den Besucherzahlen im Einzelhandel in Schweden verglichen mit Deutschland, sind die Verläufe auch hier stark korreliert. In Schweden gab es also ähnlich starke Rückgänge wie in Deutschland, obwohl im Frühjahr 2020 keine vergleichbaren Einschränkungen auferlegt wurden. Darüber hinaus scheinen Menschen ihr Verhalten bereits vor der Einführung von NPIs antizipativ anzupassen und die Mobilität zu reduzieren. Die Mobilitätstrends während der zweiten Corona-Welle sind ähnlich: Ein Rückgang der Aktivität ab September und ein erneuter Anstieg der Aktivität seit Anfang 2021, mit einem weiteren Einbruch im April 2021.

Ungeachtet möglicher Messprobleme deutet dies darauf hin, dass andere Faktoren den Rückgang der Übertragungsraten mitverursacht haben:

  • Unterscheidung zwischen Lockdowns (Eliminierung der Virusübertragung im Inland) und Isolierung (Grenzschließungen)
  • Verzerrungen durch ausgelassene Variablen
  • Unterscheidung zwischen den Effekten natürlicher pandemiebedingter Entwicklungen und staatlich induzierter Einschränkungen

Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht abschließend geklärt, warum einige Nationen wie Neuseeland, Südkorea oder Taiwan weniger von der Pandemie betroffen sind. Eine These ist, dass Inselstaaten sich selbst besser isolieren können. Länder wie Finnland, Norwegen oder Südkorea erzielten jedoch ähnliche Ergebnisse, indem sie den grenzüberschreitenden Verkehr erheblich einschränkten. Jüngste Studien argumentieren, dass andere länderspezifische Bedingungen wie die Bevölkerungsdichte und das Alter eine wichtige Rolle für den Verlauf der Pandemie spielen (Allcott et al., 2020). Eine weitere Variable, die möglicherweise die Wirksamkeit von Lockdowns positiv verzerrt, sind freiwillige dynamische Verhaltensänderungen, wie der Vergleich der Mobilitätstrends von Deutschland und Schweden zeigt. Born et al. (2021) weisen ebenfalls darauf hin, dass die Auswirkungen von sozialer Zurückhaltung in Schweden wahrscheinlich unterschätzt wurden. Folglich ist eine Endogenisierung dieser ausgelassenen Variablen in zukünftigen Untersuchungen ratsam, um die Auswirkungen und die Effektivität von NPIs besser einzuschätzen. Die derzeitige Forschung lässt die Einbeziehung dieser Faktoren in der Regel noch vermissen.

Weitere Probleme ergeben sich bei der Quantifizierung der durch NPIs verursachten wirtschaftlichen Kosten. Die meisten Studien schätzen kurzfristige Trade-Offs zwischen gesundheitlichen Schäden und dem entgangenen Wirtschaftswachstum. Es gibt allerdings noch andere relevante Kosten, die – je nach Zeithorizont - mitberücksichtigt werden müssen. Zu den weitreichendsten aus ökonomischer Sicht gehören der Verlust von Bildungspotenzial, Verteilungsungleichheiten und (dauerhafte) strukturelle Veränderungen nach Corona. Die ersten beiden Effekte hängen eng miteinander zusammen, da weniger Bildung vorwiegend Haushalte betrifft, die sozioökonomisch benachteiligt sind, und somit zu Ungleichheitsfragen führt. Der dritte Faktor betrifft strukturelle Veränderungen, verursacht durch Anpassungen im Konsum- und Investitionsverhalten. Die gesamtgesellschaftlichen Effekte können aufgrund der nach wie vor ungenügenden Datenlage in Deutschland erst nach Corona bewertet werden, zeigen aber deutlich auf, dass der totale Effekt des Trade-Offs nicht nur zwischen gesundheitlichen Kosten und entgangenem BIP in derselben Zeitperiode liegt.

Sicherlich ist es schwierig, eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse zu erstellen, da viele subjektive Werte im Spiel sind und aggregiert werden müssen. Oft werden Ursache und Wirkung verwechselt, und monokausale Erklärungen neigen dazu, komplexere Ansätze zu übertrumpfen. Nichtsdestotrotz ist es angesichts der erheblichen Einschränkungen, die NPIs für das soziale und wirtschaftliche Leben darstellen, von entscheidender Bedeutung, diese wichtigen Abwägungen immer wieder zu treffen.

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