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Björn Kauder IW-Kurzbericht Nr. 100 20. Oktober 2020 Der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU wandert gen Norden

Ein zentrales Ziel der Europäischen Union (EU) liegt in der Konvergenz der Wirtschaftsleistung ihrer Mitgliedstaaten. So weist die Präambel des EU-Vertrags als Ziel unter anderem „die Stärkung und die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften“ aus. Die jungen Mitglieder im europäischen Osten scheinen in ihrer Wirtschaftsleistung tatsächlich mit dem Westen zu konvergieren.

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Der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU wandert gen Norden
Björn Kauder IW-Kurzbericht Nr. 100 20. Oktober 2020

Der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU wandert gen Norden

IW-Kurzbericht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Ein zentrales Ziel der Europäischen Union (EU) liegt in der Konvergenz der Wirtschaftsleistung ihrer Mitgliedstaaten. So weist die Präambel des EU-Vertrags als Ziel unter anderem „die Stärkung und die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften“ aus. Die jungen Mitglieder im europäischen Osten scheinen in ihrer Wirtschaftsleistung tatsächlich mit dem Westen zu konvergieren.

Zwischen Norden und Süden ist hingegen eine divergierende Entwicklung zu beobachten. Berechnungen zeigen, dass sich der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU, der sich im deutsch-französischen Grenzgebiet befindet, sichtbar Richtung Norden verschoben hat. Das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten wuchs von 2009 bis 2018 um starke 49,6 Prozent. Der Norden der EU kam in diesem Zeitraum immerhin noch auf ein Wachstum von 37,2 Prozent. Der Süden verlor jedoch deutlich an Boden: So wuchs er von 2009 bis 2018 um lediglich 14,6 Prozent. Dabei wird der Wert noch durch Frankreich, das hier dem Süden zugerechnet wird, nach oben getrieben. Ohne Frankreich kommt der Süden nur auf ein Mini-Wachstum von 9,9 Prozent. Diese Verschiebungen in der regionalen Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstands bleiben nicht ohne Folgen. Die EU-Politik wird zunehmend von Verteilungsfragen zwischen Nord und Süd dominiert. Die unterschiedliche Performance der EU-Regionen verschiebt die wirtschaftlichen Schwerpunkte der EU und dürfte damit langfristig auch die Siedlungsschwerpunkte beeinflussen.

Zur Bestimmung des geografischen Mittelpunkts eines Gebiets gibt es zahlreiche Methoden. Einfache Methoden bestimmen den Mittelpunkt eines um ein Gebiet gelegten Rechtecks oder ermitteln den Schnittpunkt zweier Geraden, die vom nördlichsten zum südlichsten sowie vom westlichsten zum östlichsten Punkt eines Gebiets laufen. Andere Methoden versuchen den geometrischen Schwerpunkt zu finden. Bildlich gesprochen schneidet man ein Gebiet gemäß seiner Außengrenzen aus Pappe aus und definiert denjenigen Punkt als Mittelpunkt, in dem die Pappe auf einer Bleistiftspitze ausbalanciert werden kann. Seit der EU-Osterweiterung lokalisieren verschiedene Berechnungen den geografischen Mittelpunkt der EU in der südlichen Mitte Deutschlands. Je nach Berechnungsweise und EU-Zusammensetzung befindet sich der Mittelpunkt demnach zwischen dem nordöstlichen Rheinland-Pfalz und dem nordwestlichen Bayern (Schiefenhövel/Thiel, 2007).

Dieser Beitrag zielt jedoch darauf ab, den wirtschaftlichen Mittelpunkt zu bestimmen. Neben der geografischen Komponente spielt auch die Wirtschaftsleistung der Regionen eine Rolle. Die Wirtschaftsleistung hängt dabei nicht nur von dem individuellen Wohlstand, sondern auch von Siedlungsschwerpunkten ab. So ist offenkundig, dass beispielsweise der wirtschaftliche Mittelpunkt Finnlands deutlich südlich des geografischen Mittelpunkts liegen wird. Ein Beitrag von Ingold et al. (2019) mit Daten des Bureau of Economic Analysis zeigt, dass der wirtschaftliche Mittelpunkt der Vereinigten Staaten in Missouri liegt. Aufgrund der boomenden Regionen an der Westküste ist der Mittelpunkt in den vergangenen knapp 20 Jahren um rund 120 Kilometer Richtung Westen gewandert.

In diesem Beitrag wird auf den gleichen Ansatz zurückgegriffen, den auch der Beitrag von Ingold et al. (2019) nutzt. Demnach ergeben sich der Breiten- und Längengrad des wirtschaftlichen EU-Mittelpunkts aus zwei Gleichungen. Sie beschreiben jeweils einen mit dem BIP gewichteten Mittelwert von Breiten- und Längengrad (alle Variablen bezogen auf europäische Regionen): Breitengrad  = ∑BIP*Breitengrad / ∑BIP, Längengrad = ∑BIP*Längengrad*cos(Breitengrad*π/180) / ∑BIP*cos(Breitengrad*π/180).

Die Datengrundlage der Berechnungen sind regionale BIP-Statistiken von Eurostat (2020a). Zu beachten ist, dass eine exakte Georeferenzierung einer jeden Wertschöpfung nicht möglich ist. Es ist nicht bekannt, welche BIP-Einheit beispielsweise welcher Produktionsstätte zuzuordnen wäre. Stattdessen wird die Wirtschaftsleistung auf regionaler Ebene aggregiert, sodass die Berechnung des wirtschaftlichen Mittelpunkts der EU nicht auf den Kilometer genau zu interpretieren ist. Die Daten liegen auf NUTS-2-Ebene vor, welche in Deutschland den Regierungsbezirken entspricht. Die Georeferenzierung erfolgt mithilfe der Daten des Georeferenzierungsprojekts geohack.toolforge.org. In einigen kleineren EU-Staaten wird aufgrund mangelnder Daten auf eine höhere als die NUTS-2-Ebene zurückgegriffen. Dies gilt aufgrund von Gebietsreformen auch für Frankreich, was sich jedoch in Sensitivitätsanalysen als unproblematisch erweist. Um Verzerrungen durch die sich häufig ändernde Zusammensetzung der EU (Osterweiterung, Brexit) zu vermeiden, wird stets auf die gegenwärtige Zusammensetzung mit 27 Mitgliedstaaten nach dem erfolgten Brexit zurückgegriffen. Somit wird auf die wirtschaftliche Aktivität der Staaten und nicht auf die administrativen Gegebenheiten fokussiert. Überseegebiete werden dabei nicht betrachtet. Es werden nur solche Gebiete berücksichtigt, die geografisch dem europäischen Kontinent zuzuordnen sind.

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Die Berechnungen zeigen, dass der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU im Jahr 2018 im deutsch-französischen Grenzgebiet zu verorten ist (Abbildung). Er liegt südöstlich von Offenburg in Baden-Württemberg. Ferner zeigt sich, dass der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU somit seit 2009 – langsam, aber stetig – etwa 50 Kilometer Richtung Norden gewandert ist. Seinerzeit lag er noch südöstlich von Freiburg im Breisgau. Schreibt man diese Entwicklung fort, so könnte der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU in 25 Jahren bereits bei Mannheim liegen. Die Betrachtung der am stärksten und am schwächsten gewachsenen Regionen passt zu diesem Ergebnis. In der Spitzengruppe liegen – mit Ausnahme Maltas – ausschließlich nord- und osteuropäische Regionen. Das höchste Wachstum weisen dabei zwei irische Regionen sowie Malta und Estland auf, wo sich jeweils etwa eine Verdopplung der nominalen Wirtschaftsleistung von 2009 bis 2018 zeigt. Am schlechtesten schneiden ausschließlich griechische Regionen ab. Dort ging die Wirtschaftsleistung im gleichen Zeitraum um etwa ein Fünftel zurück. Übrigens: Im Jahr 2000 lag der wirtschaftliche Mittelpunkt der EU noch auf halber Strecke zwischen Offenburg und Freiburg. Zwischen den Jahren 2000 und 2009 bewegte er sich deutlich Richtung Süden. Dahinter steht ein überproportionales Wachstum im Süden, das aufgrund der durch die Euro-Einführung gesunkenen Zinsen stark auf höheren Krediten basierte, deren Verwendung sich als nicht hinreichend wirtschaftlich nachhaltig erwies. Doch mit der globalen Finanzmarktkrise fand der Aufholprozess des Südens ein jähes Ende. Seit 2012 – dem Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise, die vor allem den Süden traf – liegt der Mittelpunkt sogar wieder nördlicher als im Jahr 2000.

Nach obiger Methode lässt sich analog auch der Siedlungsmittelpunkt der EU berechnen, indem anstelle des BIP die Einwohnerzahl verwendet wird (Eurostat, 2020b). Der Siedlungsmittelpunkt liegt in der Nähe von Bregenz im westlichen Österreich und hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Die Veränderungsraten der Bevölkerung in den einzelnen Regionen fallen deutlich moderater aus als bei der Wirtschaftsleistung. In der Spitzengruppe finden sich Regionen aus allen Himmelsrichtungen. Angeführt wird die Liste von Malta mit einem Plus von 15 Prozent. Unter den geschrumpften Regionen finden sich vor allem ost- und südeuropäische Regionen. Die „rote Laterne“ trägt der bulgarische Nordwesten mit einem Minus von rund 8 Prozent.

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Die Lage des Siedlungsmittelpunkts rund 160 Kilometer südöstlich des wirtschaftlichen Mittelpunkts reflektiert die gegenüber den nördlichen EU-Staaten schwächere Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung Süd- und Osteuropas. Die gewachsene Entfernung von wirtschaftlichem Mittelpunkt und Siedlungsmittelpunkt belegt die schwache Wirtschaftsentwicklung Südeuropas. Bei vollständiger wirtschaftlicher Konvergenz aller Regionen wären der wirtschaftliche Mittelpunkt und der Siedlungsmittelpunkt offenkundig identisch. Die EU wird sich daran messen lassen müssen, ob sämtliche EU-Regionen den Konvergenzpfad finden werden.

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