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(© Foto: Ulrich Baumgarten)
Klaus-Heiner Röhl IW-Nachricht 29. September 2017

Tag der deutschen Einheit: Annäherung im Schleichgang

Am 3. Oktober jährt sich der Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik zum 27. Mal. Doch noch immer gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West – was nicht zuletzt auch in den Wahlergebnissen der AfD bei der Bundestagswahl gezeigt hat. Der „Aufbau Ost“ geht weiter, aber im Schleichgang.

Das vergangene Jahr war wirtschaftlich gut und hat dazu geführt, dass sich Ost und West weiter annähern: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in den Ländern im Osten schneller gewachsen als im Westen und erreicht pro Einwohner nun 69 Prozent des westdeutschen Niveaus, wenn man Berlin außen vor lässt. Mit der Hauptstadt sind es 73 Prozent. Der Anstieg kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ökonomischen Differenzen zwischen den Landesteilen noch immer gewaltig sind und der „Aufbau Ost“ insgesamt nur schleppend verläuft. Hauptgrund dafür sind die fehlenden Großunternehmen mit hoher Wertschöpfung im Osten.

Betrachtet man die wichtigsten ökonomischen Indikatoren zu Wirtschaftsleistung – Produktivität, Kapitaleinsatz, Erwerbsbeteiligung, Selbstständigkeit, Forschung sowie Arbeitslosigkeit – erreichen die fünf ostdeutschen Flächenländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich heute drei Viertel des westdeutschen Niveaus. Das zeigt der IW-Konvergenzindikator zur deutschen Einheit: Die fünf Länder erreichen einen Wert von 74,6, der westdeutsche Durchschnitt wurde gleich 100 gesetzt. Dabei ist das Tempo der Annäherung inzwischen bescheiden: Im Jahr 2000 erreichten die ostdeutschen Bundesländer einen Wert von 66 – innerhalb von 16 Jahren hat sich die Lücke nur noch wenig verkleinert. Anders sah die Entwicklung in den Jahren direkt nach der Wende aus. Erreichten der Osten 1991 noch einen Wert von gerade einmal 51 im Vergleich zum Westen, konnten die Länder den Abstand innerhalb eines knappen Jahrzehnts um 15 Punkte verringern.

Ein wesentlicher Treiber der Angleichung ist die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Während die Arbeitslosigkeit vor 10 Jahren im Osten noch doppelt so hoch war wie in den Westländern, ist der Abstand inzwischen auf 57 Prozent geschrumpft. In immer mehr ostdeutschen Regionen herrscht eher Fachkräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit. Dies liegt aber nicht nur an der positiven Wirtschaftsentwicklung, sondern auch an der Demografie: In Ostdeutschland erreichen immer mehr Menschen das Rentenalter und das Arbeitskräftepotenzial schrumpft, während im Westen insbesondere durch Zuwanderung aus dem Ausland die arbeitende Bevölkerung weiter wächst. Zwar wandern heutzutage kaum noch Menschen aus dem Osten in den Westen ab, doch die schwachen Nachwendejahrgänge können die Renteneintritte bei Weitem nicht ausgleichen.

Hinzu kommt eine starke Landflucht innerhalb der Ostländer: Während Städte wie Leipzig oder Potsdam junge Menschen anziehen, droht einigen Landstrichen die Verödung. Überhaupt scheint ein Gefühl des „Abgehängtseins“, was sich nur partiell in wirtschaftlichen Kennzahlen widerspiegelt, in Teilen Ostdeutschlands um sich zu greifen. Dies könnte die auffällige Stärke der Protestpartei AfD in den östlichen Ländern teilweise erklären. Mag die Arbeitslosigkeit auch nicht mehr dramatisch hoch sein, so führt doch eine Kombination aus Schul- und Geschäftsschließungen, Ärztemangel und ausgedünnten Verkehrsangeboten in vielen ländlichen Regionen zu Frustration, die nun möglicherweise eine politische Kanalisierung erfahren hat.

Die Auswirkung der wirtschaftlichen Daten auf das Wahlverhalten ist dagegen nicht so eindeutig: Zwar wurde bei kleinräumiger Betrachtung in schwachen Regionen deutschlandweit eher die AfD gewählt – so im stark von Arbeitslosigkeit und Armut geprägten Gelsenkirchen mit 17 Prozent (höchster westdeutscher Wert) gegenüber 4,9 Prozent im prosperierenden und nicht weit entfernten Münster (niedrigster westdeutscher Wert). Doch innerhalb Westdeutschlands gibt es ein starkes Nord-Süd-Gefälle mit den geringsten Stimmanteilen in den relativ wirtschaftsschwachen Flächenländern Niedersachen und Schleswig-Holstein und den mit 12,2 und 12,4 Prozent höchsten Werten in den boomenden Südländern Baden-Württemberg und Bayern.

Das Gleiche gilt auf höherem Niveau in Ostdeutschland: Hier wurde mit 18,6 Prozent der niedrigste AfD-Anteil in Mecklenburg-Vorpommern, dem wirtschaftsschwächsten Land, verzeichnet, während die AfD im deutlich wohlhabenderen Sachsen mit 27 Prozent stärkste Kraft wurde. Im Kreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge, Wahlkreis der ehemaligen Pateivorsitzenden Petry, erzielte die AfD mit 35,5 Prozent der Zweitstimmen ihren besten Wert. Die Arbeitslosigkeit liegt hier jedoch nur noch wenig über 5 Prozent und die nah gelegene Landeshauptstadt Dresden bietet für ostdeutsche Verhältnisse gute Einkommen für Pendler. Deshalb könnte das insgesamt starke Abschneiden der AfD im Osten eher auf eine weniger gefestigte Parteienbindung und eine durchweg kritischere Sicht auf die Zuwanderung zurückzuführen sein als auf den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber dem Westen.

Wirtschafts- und regionalpolitische Maßnahmen werden also wenig Effekt auf das Wahlverhalten haben. Die Politik sollte sicherstellen, dass die Grundversorgung im ländlichen Raum – etwa öffentlicher Nahverkehr, ärztliche Versorgung und sonstige Infrastruktur – nicht weiter beschnitten wird. In den Städten ist hingegen der Wohnungsmangel das drängendste Problem (vor allem im Westen), dessen Bekämpfung auch die AfD schwächen könnte. Darüber hinaus bleibt das Erstarken einer rechtsradikalen Partei nicht nur im Osten ein gesellschaftliches Problem, auf das auch eher gesellschaftspolitische als wirtschaftspolitische Antworten gefunden werden müssen.

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