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Michael Hüther im Handelsblatt Interview 11. April 2022

„Stagflationskräfte könnten bis 2030 wirken”

Arbeitskräftemangel, Demografie, Energiewende – im Interview mit dem Handelsblatt warnt IW-Direktor Michael Hüther vor extrem schwierigen Zeiten.

Herr Hüther, eine Umfrage des Handelsblatts zeigt, dass die Löhne in verschiedenen Bereichen in diesem Jahr kräftig steigen werden. Kommt nun die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale?

Eine Lohn-Preis-Spirale entsteht, wenn in der Breite die Löhne ohne Rücksicht auf die Produktivität erhöht werden. Das ist bislang aus den Tarifverhandlungen jedenfalls noch nicht abzuleiten. Aufgrund des Fachkräftemangels werden mittelfristig die Löhne anziehen, aber noch nicht in der Breite.

In welchen Bereichen ist der Arbeitskräftemangel besonders groß?

Mittlerweile nicht mehr nur im naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich (MINT) und in den sozialen Dienstleistungen, die Pandemie hat auch geringer Qualifizierten die Offenheit des Arbeitsmarktes gezeigt.

Die Inflationsraten steigen drastisch, gleichzeitig verschlechtern sich durch den Krieg die Wachstumsperspektiven. Droht eine Stagflation?

Auf mittlere Sicht hat das Risiko durch den Krieg deutlich zugenommen, da die Energiepreise nachhaltig höher bleiben werden. Hinzu kommt der CO2 - Preisanstieg und eine Überforderung im Strukturwandel zur Klimaneutralität. Außerdem wird der demografische Wandel das Wachstum schwächen. Also: Inflationsraten, die weit jenseits des Inflationsziels der EZB von zwei Prozent liegen und schwaches Wachstum - bis zum Ende des Jahrzehnts ist ein stagflationäres Szenario realistisch.

Muss die EZB jetzt schneller gegensteuern, so wie die US-Notenbank?

Bisher dominieren angebotsseitige Teuerungseffekte, gegen die die EZB nichts machen kann. Gleichwohl muss die Zentralbank wachsam sein wegen schon erkennbarer Überwälzung auf andere Bereiche. Hinzu kommt, dass die schnelle geldpolitische Wende der US-Notenbank den Dollar stärkt und dafür teurere Importpreise in Europa verursacht. Kommt das Gasembargo mit all seinen Folgen für die deutsche - und auch die europäische - Volkswirtschaft insgesamt, sollte die EZB die Normalisierung ihrer Geldpolitik behutsam angehen. Ich rechne bei gesamtwirtschaftlicher Normalisierung mit kleineren Zinsschritten im zweiten Halbjahr.

Die Bundesregierung wehrt sich gegen diesen Gasboykott. Halten Sie das für richtig?

Ich halte die gesamtwirtschaftlichen Schäden eines Gasembargos in Deutschland für sehr gravierend; es geht um die Frage, ob wir eine Grundstoffproduktion noch in Deutschland haben werden beziehungsweise wollen. Damit schädigen wir uns in einer Weise im Kern des deutschen Geschäftsmodells, wie es sich Putin nur wünschen kann. Denn die Kaskadeneffekte vor allem über die Grundstoffchemie dürften erheblich sein; Arbeitslosigkeit in Millionenhöhe ist zu erwarten. Ein Import, so er überhaupt vergleichbar möglich ist, würde uns in andere Abhängigkeiten treiben, vor allem von China. Wir müssen handlungsfähig bleiben, deshalb werden wir noch mindestens zwei Jahre auf russisches Gas angewiesen sein.

Wie stehen Sie zu der Behauptung der Bundesregierung, dass ein sofortiger Energie-Importboykott nichts bringen würde, weil Putin diese Mittel gar nicht für seinen Krieg verwenden könne?

Das kann man aus verschiedenen Perspektiven beantworten: Da Putin offensichtlich völlig empathielos gegenüber menschlichem Leid entscheidet und dabei einen historischen Auftrag für sich reklamiert, werden ihn Sanktionen nicht vom Krieg abhalten. Er handelt eiskalt kalkulierend, indem er auch durch Massaker an der Zivilbevölkerung den Westen zu Sanktionen drängt, die dem Westen kurzfristig mehr schaden als ihm.

Die Frage war eigentlich, ob die Rohstofferlöse Putins Krieg finanzieren ...

Ökonomisch ist das etwas unübersichtlicher. Die laufenden Kosten des Krieges (Sold, Ausrüstung) bestreitet er mit Rubel, eine direkte Nutzung der Devisen ist dafür nicht zu erkennen. Mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung wirken die Devisen natürlich absichernd, weil sie Importoptionen schaffen. Dagegen wirken aber die Handelssanktionen und die Sanktionen gegen die Finanzwirtschaft. Die Isolierung der Zentralbank ist dabei bedeutsam, wie Putins Versuch zeigt, für die Exporte nur noch Rubel zu akzeptieren.

Was halten Sie von der überraschenden emotionalen Debattenkultur unter Ökonomen in Deutschland?

Es mischen sich zwei Entwicklungen: Einerseits sind wir alle emotional angefasst und mental gefordert, mit dem zuvor für unvorstellbar gehaltenen Kriegsschrecken in Europa umzugehen. Dabei nüchtern abwägend zu argumentieren ist zweifellos eine große Herausforderung. Aus dem Drang, etwas tun zu wollen, verrücken dann schon mal die Maßstäbe, Werturteile überformen stärker als gewöhnlich auch die modellhafte Analyse. Andererseits gibt es seit einiger Zeit in der Ökonomik einen Trend, bestimmte Methoden als ausschließlich wissenschaftlich zu bewerten. Dabei gilt, dass die Modellanalyse uns weitergebracht hat, aber anderes nicht ersetzen kann. So geht es immer um einen konstruktiven Diskurs verschieden methodischer Stränge, dagegen haben aber einige schon seit einiger Zeit einen sehr robusten Ton gesetzt.

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