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Wido Geis-Thöne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Interview 23. Mai 2022

Lehrermangel: „In vier, fünf Jahren werden wir das große Drama erleben“

IW-Bildungsexperte Wido Geis-Thöne hat eigene Berechnungen zum Lehrermangel in Deutschland vorgelegt. Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt er, warum vor allem in den MINT-Fächern Ungemach droht und wo die Grenzen des Quereinstiegs liegen.

Sie haben den Lehrermangel bis ins Jahr 2035 modelliert. Warum ist das momentan so wichtig?

Wir wissen, dass es bei den Geburten in den Jahren 2010 bis 2020 eine Zunahme gab; die ersten starken Jahrgänge sind bereits eingeschult worden, an den Grundschulen gibt es schon leichte Lehrkraftengpässe. Das große Drama werden wir aber erst in vier, fünf Jahren erleben, wenn diese Kinder in den weiterführenden Schulen ankommen. Eigentlich ist es schon zu spät, dem noch vernünftig entgegenzutreten, und es wird an anderer Stelle noch zu einer Verschärfung kommen. Das zeigt das Beispiel Bayerns, wo man das Problem erkannt und die Lehramtsstudiengänge für die Grundschule sehr erfolgreich geöffnet hatte. Doch es entscheiden sich nur wenige für das Hauptschullehramt, bei dem man es später häufig mit Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen zu tun bekommt. Zugleich werden wir in Zukunft verstärkt mit den Themen Digitalisierung oder grüne Technologie konfrontiert sein, Themen also, die ausgeprägte analytische Fähigkeiten erfordern. Bildungserfolge in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften sind hier eine wichtige Voraussetzung. Und da parallel die Zahl der Kinder auch aus nichtdeutschsprachigen Familien steigt, bei denen der Bildungserfolg besonders wichtig ist, sehen wir das Schulsystem stark herausgefordert. Das Kind ist schon ein bisschen in den Brunnen gefallen.


Welche Faktoren machen die genaue Berechnung der Lehrkräftelücke so schwierig?

Zunächst haben wir es bei den Lehrkräftebeständen mit zwei großen Unsicherheitsfaktoren zu tun. Der eine betrifft das Thema Pensionierung und Verrentung: Wie lange bleiben uns die Lehrkräfte erhalten? Hier gab es in den vergangenen Jahren immerhin eine positive Entwicklung. Der andere Unsicherheitsfaktor hat mit der Frage zu tun, wie viele Lehrkräfte in Teilzeit gehen oder familienbedingte Auszeiten nehmen. Unsicherheiten gibt es natürlich auch beim Nachwuchs: Wie groß ist das Interesse für den Lehrerberuf – welche Fächer sind besonders beliebt? Und auch beim Bedarf gibt es Unsicherheiten. Seit Corona scheint zum Beispiel das Interesse am Abitur nach einer Zeit der Stagnation wieder zugenommen zu haben. Bei zunehmender Akademisierung brauchen wir dann aber mehr Lehrkräfte in den Oberstufen. Außerdem haben wir in den letzten Wochen und Monaten erlebt, dass viele Kinder und Jugendliche aus der Ukraine zu uns gekommen sind. So etwas ist nicht abzusehen.


Warum haben Sie eine eigene Berechnung vorgenommen? Es gibt aus diesem Jahr schon zwei zum Thema, eine von der Kultusministerkonferenz (KMK), eine von dem anerkannten Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).

Da die schulische Bildung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland immer wichtiger wird, interessieren wir uns schon länger für das Thema.


Welche Schwächen sehen Sie in der Berechnung der KMK?

Die Berechnung ist wahnsinnig intransparent. Zugrunde liegen Zahlen der einzelnen Kultusministerien, die von der KMK nur zusammengetragen werden. Vor allem bei den angegebenen Zahlen der nachrückenden Lehrkräfte hat man sehr stark das Gefühl, dass sie zu optimistisch sind. In manchen Bundesländern sieht man zum Beispiel, dass beim Neueinstellungsangebot immer der gleiche Wert angegeben wird, obwohl sich die Abiturientenzahlen in dieser Zeit deutlich verändert haben. Ich würde von der Kultusministerkonferenz erwarten, dass verschiedene Szenarien berechnet werden, damit man ein Gefühl dafür bekommt, was schlimmstenfalls passieren könnte. So etwas macht das Statistische Bundesamt bei den Bevölkerungsprognosen ja auch.


Im Moment stellt sich die Situation so dar, dass die Berechnung der KMK zu optimistisch ist und keine Maßnahmen für wahrscheinlichere, eher pessimistische Szenarien eingeleitet werden?

Das ist das Problem. In den letzten Jahren hätte man sehr viel stärker in die Ausbildung von Lehrkräften gehen müssen. Der Mangel der kommenden Jahre bricht ja keinesfalls überraschend über uns hinein.


Klaus Klemm und seiner Berechnung folgen Sie in vielen Punkten. Er geht von einem weit stärkeren Lehrkräftebedarf als die KMK aus. Inwiefern unterscheiden Sie sich von ihm?

Grundsätzlich sind seine Berechnungen sehr gut, wir sind sehr nahe bei ihm. Nur ist er aus meiner Sicht in einem Punkt zu pessimistisch: Er rechnet mit zu vielen Lehrern, die früh in den Ruhestand gehen.


Wie stark wird der Bedarf an Lehrkräften nach Ihrer Berechnung bis ins Jahr 2035 steigen?

Unseren Berechnungen zufolge wird der Lehrkräftebedarf bis zum Schuljahr 2035/2036 um rund zehn Prozent höher liegen als im Schuljahr 2020/2021. 

Wie dramatisch kann der Lehrermangel im schlimmsten Fall werden?

Hier muss man sich fragen: Was bedeutet Lehrkräftemangel genau? Wir haben ja eine Schulpflicht, sodass die Kinder und Jugendlichen in Deutschland in jedem Fall auch weiterhin unterrichtet werden müssen. Allerdings könnten die Klassen größer oder der Umfang des Unterrichts kleiner werden. Beides wäre im Hinblick auf die Qualität der schulischen Bildung sehr kritisch zu sehen. Zudem könnte es insbesondere im Fall einer Erkrankung von Lehrkräften noch häufiger zu Unterrichtsausfällen kommen. Auch wird die Zahl der Quereinsteiger zunehmen, worunter die schulische Bildung ebenfalls leiden wird, wenn keine ausreichende Vorbereitung auf den Schuldienst stattfindet.


In Ihrem Gutachten gehen Sie gesondert auf die besonders schwierige Situation in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) ein, die negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Warum herrscht hier eine so große Unsicherheit schon im Bezug auf die Zahlen der Lehrer, die diese Fächer unterrichten?

Die KMK-Zahlen differenzieren grundsätzlich nur nach Schulformen, nicht aber nach Fachrichtungen. So wissen wir gar nicht, wie viele MINT-Lehrkräfte es aktuell gibt. Viel wird in diesem Bereich bereits heute von Quereinsteigern und fachfremden Lehrkräften unterrichtet, wir wissen aber nicht genau, wie viel. Das Grundproblem ist, dass das Lehramt für Studenten der MINT-Fächer eher unattraktiv ist, weil es gute alternative Berufschancen abseits der Schulen gibt. Besonders große Engpässe wird es im Bereich Informatik und Technik geben, Fächer, die für das Wohl Deutschlands besonders wichtig sind.


Ist das Problem nicht fast unlösbar? Es studieren zu wenige junge Menschen die MINT-Fächer aufs Lehramt – zugleich werden Quereinstiege immer unwahrscheinlicher, weil die Nachfrage der freien Wirtschaft steigt. Was ist zu tun?

Hier sollte man pragmatisch vorgehen. Erst einmal müsste man wissen, wie schwerwiegend der Engpass tatsächlich ist. Wenn er sehr schlimm ist und wir zu wenige Lehrer für die MINT-Fächer an der Sekundarstufe I bekommen, muss man darüber nachdenken, die Anforderungen im Fachstudium in diesem Bereich zu vereinfachen und mit entsprechender Didaktik zu unterfüttern. Das ist immer noch besser, als Lehrer fachfremd einzusetzen. Für die Sekundarstufe II, insbesondere die Leistungskurse, ist das natürlich keine Option.

Zum Interview auf faz.net

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