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Bundesfinanzminister Christian Lindner will an der Schuldenbremse festhalten. (© GettyImages)
Michael Hüther Jens Suedekum im Handelsblatt Gastbeitrag 28. September 2022

Schuldenbremse weiter aussetzen

Die Unternehmen leiden unter den extrem hohen Energiekosten. Der Bund muss jetzt alles daransetzen, eine drohende Deindustrialisierung abzuwenden, fordern IW-Direktor Michael Hüther und Jens Suedekum, Direktor des Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Universität Düsseldorf in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.

Deutschland steht im Winter vor einer schweren Rezession bei gleichzeitiger Rekordinflation. Treiber für beides sind die Energiepreise, allen voran Gas und Strom. Die bösen Briefe der Versorger treffen allmählich bei den Menschen ein. Die Durchschnittsfamilie soll plötzlich nicht mehr 100 Euro, sondern 500 Euro monatlich bezahlen. Der einzige Ausweg wird für viele darin bestehen, ihren sonstigen Konsum massiv einzuschränken und die konjunkturelle Talfahrt dadurch zu beschleunigen.

Genauso dramatisch ist die Lage bei den Unternehmen. Viele konnten bislang ihre gestiegenen Energiekosten an die Verbraucher weiterreichen. Aber das wird bei gedrosseltem Konsum und aufgebrauchten Sonderersparnissen aus der Coronazeit nicht mehr gelingen. Damit stehen flächendeckend Geschäftsmodelle im Feuer - vom kleinen Bäcker bis zum großen Industriekonzern. Dort drohen langfristige Entscheidungen gegen den Standort Deutschland.

Viele fahren ihre Produktion im Inland herunter oder verlagern ins Ausland. Investitionspläne für den klimafreundlichen Umbau werden auf Eis gelegt. Alles dreht sich nur noch um eine Frage: Wie sollen wir die hohen Energiepreise bezahlen?

Noch sehen die Prognosen der Institute angesichts des Teuerungsschocks recht glimpflich aus. Für das kommende Jahr wird ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von bis zu zwei Prozent vorhergesagt. Doch eigentlich hätte ja die Erholung nach der Pandemie angestanden. Ohne den russischen Angriffskrieg hätten wir dieses Jahr ein robustes Wachstum von rund vier Prozent erreicht. Stattdessen erleben wir die zweite schwere Krise in kurzer Zeit. Und: Die Energiekosten werden auf absehbare Zeit deutlich erhöht bleiben und das Vorkrisenniveau wohl auch dauerhaft nicht wieder erreichen.

Mittelfristig sorgt der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren zwar für Entspannung. Aber auf Sicht der nächsten zwei Jahre ist die Lage dramatisch. Es muss jetzt alles darangesetzt werden, dauerhafte Schäden durch eine ansonsten drohende Deindustrialisierung abzuwenden.

Gefordert ist insbesondere die Bundesregierung, denn es geht um eine gesamtstaatliche Herausforderung. Zugleich hat nur der Bund die finanzpolitische Flexibilität, um schnell und angemessen zu reagieren. Er muss erneut einen Schutzschirm für Haushalte und Unternehmen aufspannen. Eine Insolvenz- und Verlagerungswelle bedroht die Substanz der deutschen Volkswirtschaft. Hiergegen muss sich der Staat mit aller Kraft stemmen.

Das geht mit Direktzahlungen, Steuererleichterungen und Zuschüssen an besonders Betroffene. Aber damit kommen wir allenfalls über den Winter, die aus der Knappheit bei Gas sowie aus dem Strommarktdesign resultierende Energiepreisentwicklung droht als dauerhafte Belastung. Deshalb wird es schon kurzfristig nicht ohne direkte Preiseingriffe gehen.

Beim Strom ist ein Preisdeckel für den Basisverbrauch verabredet. Völlig offen ist noch die Lösung beim Gas. Die zuständige Kommission wird bis Mitte Oktober Vorschläge für die Umsetzung auf den Tisch legen. Die Finanzierung wird kein Selbstläufer. Anders als im Strommarkt ist beim Gas kein direkter Zugriff auf die Übergewinne der Krisenprofiteure möglich, denn die sitzen überwiegend im Ausland.

Damit würde ein Großteil der Rechnung beim Bund hängenbleiben, wollte er für einen Basisverbrauch die Differenz zwischen Marktpreis und vergünstigtem Endkundenpreis decken. Hierfür sind zweistellige Milliardenbeträge zu veranschlagen, zusätzlich zu den Kosten für die anderen Beihilfen.

Wie soll das bezahlt werden? Wir sollten in der gegenwärtigen Lage, die zu Recht als Zeitenwende bewertet wird, wie schon in der Pandemie die flexiblen Elemente der Schuldenbremse nutzen.

Der von Putin initiierte Gas-Lieferstopp ist ein erheblicher exogener Schock, der sich der Kontrolle des deutschen Staates entzieht und Volkswirtschaft wie Gesellschaft bis ins Mark trifft. Genau für solche Fälle ist die Ausrufung der Notfallsituation vorgesehen. Wir alle hätten uns gewünscht, dass wir nach Corona nicht gleich wieder von dieser Ausnahmeklausel Gebrauch machen müssen. Doch Putin lässt uns keine andere Wahl.

Zwar gibt es auch andere Finanzierungsvorschläge - von einem "Energie-Soli" bis zu entsprechenden Kürzungen an anderer Stelle im Haushalt. Doch so diskussionswürdig einige dieser Ideen auch sein mögen, sie dauern in der Umsetzung viel zu lange und sind - wie eine neue Steuer in der Rezession - volkswirtschaftlich fragwürdig. Es besteht unmittelbarer Handlungsdruck. Damit ist eine Kreditfinanzierung für zumindest einen Teil der jetzt anstehenden Krisenkosten über den Bundeshaushalt unumgänglich.

Natürlich muss man die Gegenargumente ernst nehmen und gewichten. So weist der Bundesfinanzminister zu Recht darauf hin, dass bei einem Angebotsschock eine expansive Fiskalpolitik fragwürdig erscheinen kann. Auf den ersten Blick wirkt das überzeugend.

Wir leiden derzeit unter Angebotsschocks. Sie treiben schon bei konstanter Nachfrage die Preise nach oben. Und wenn wir jetzt die Nachfrage mit neuen Schulden noch weiter befeuern, kann die Inflation nur schlimmer werden. Doch wie inflationär zusätzliche Staatsausgaben tatsächlich sind, hängt entscheidend davon ab, was konkret damit passieren soll. Niemand fordert derzeit ernsthaft einen breit angelegten, keynesianisch inspirierten Stimulus für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.

Niemand will ernsthaft Helikoptergeld oder Konsumgutscheine austeilen, auf breiter Front die Verbrauchsteuern senken oder Ähnliches. Das wäre völlig kontraproduktiv. Stattdessen geht es ganz konkret um einen Schutzschirm. Also die teilweise Abfederung eines Kostenschocks, der ansonsten zu einem Kahlschlag bei Haushalten und Unternehmen führen und damit langfristig die Stabilität der gesamten Volkswirtschaft gefährden würde.

Eine solche Maßnahme ist nicht inflationär. Im Gegenteil: Ein Preisdeckel für den Basisverbrauch von Strom und Gas reduziert unmittelbar den Konsumentenpreisindex. Hierdurch sinkt der Druck auf die Tarifparteien und mittelbar auf die Europäische Zentralbank.

Weitere Zinserhöhungen könnten vermieden werden, was der Baukonjunktur und in letzter Konsequenz auch den öffentlichen Haushalten wieder etwas zugutekäme. Auch Investitionen müssen nicht inflationär sein, denn sie entfachen ja nicht bloß Nachfrage, sondern führen auch zu einer Erweiterung der Produktionskapazitäten. Letztlich sind Investitionen der einzig gangbare Weg raus aus dem Angebotsschock, daher darf ihre Finanzierung nicht zur Disposition stehen.

Inflation ist eins der größten wirtschaftlichen Übel überhaupt, zumal für Menschen mit kleinen Einkommen und geringen Vermögen. Niemand kann ein Interesse daran haben, die Inflation durch falsche Politik zu verlängern oder zu verschlimmern. Aber richtig verstandene Wirtschaftspolitik kann in der Krise den Absturz der deutschen Volkswirtschaft verhindern, absolut schützenswerte Strukturen stabilisieren und ganz nebenbei die Inflation bekämpfen.

Hierfür muss die Politik jetzt kraftvoll und zielgerichtet handeln, und gerade deshalb muss die Schuldenbremse im kommenden Jahr ausgesetzt bleiben.

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