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(© Foto: Getty Images)
Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 27. August 2021

Mehr Demokratie wagen – eine Handlungsanweisung

Beim Klimaschutz verhindern Denkblockaden wichtige Fortschritte, kritisiert IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt. Die Parteien sollten die Wähler mit Transparenz und Ehrlichkeit für notwendige Reformen gewinnen.

Die Bundestagswahl rückt näher, die Ratlosigkeit nimmt zu: bei den Wahlkämpfern, wie deren programmatische Unbestimmtheit – um nicht zu sagen Beliebigkeit – signalisiert, und bei den Wählern, wie deren in Umfragen reflektierte Wankelmütigkeit zeigt. Die Frage nach den wirtschaftspolitischen Aufgaben lässt sich nicht mehr mit der Auflistung von Herausforderungen und Konzepten beantworten, sondern muss in einem weiten Handlungsfeld gesucht werden.

Beispiel Klimaschutz: Er ist zur Jahrhundertaufgabe der Menschheit geworden. Doch der Entwurf des jüngsten „Projektionsberichts“ zum „Klimaschutzprogramm 2030“ des Bundesumweltministeriums macht deutlich, dass wir nicht auf dem projektierten Weg sind.

Klar ist: Klimapolitik ist mit erheblichen Belastungen verbunden. Denn die zunehmend verringerte Zuteilung von CO2-Emissionsrechten führt in vielen Lebensbereichen zu Konsequenzen, die mit erheblichen Verteilungskonflikten einhergehen werden. Diese Konsequenzen lassen sich nicht mit Formulierungen wie „grünes Wachstum“, „neue Märkte“, „saubere Jobs“ übertünchen.

Die Kosten für das Individuum zu verschleiern ist Folge eines verfestigten Denkens in politischen Silos und der Ignoranz gegenüber Wechselwirkungen. Denn schnell entstehen aus wirksamer Klimapolitik Konflikte mit anderen Politikfeldern.

Wer die energetische Gebäudesanierung forcieren will, was dringend geboten ist, der wird mit Steigerungen bei den Mieten konfrontiert, die in den letzten Jahren in größeren Städten infolge erhöhter Binnenwanderung bereits kräftig gestiegen sind. Der Vorschlag eines Mietpreisdeckels ist nicht nur mit Blick auf die Anreize für vermehrte Bautätigkeit fragwürdig, sondern ebenso klimapolitisch.

Wer im Verkehr die Dekarbonisierung, die Abkehr von fossilen Energieträgern, vorantreiben will, der wird durch die sinnvolle Integration des Bereichs in den Zertifikatehandel über die Mineralölwirtschaft steigende Benzinpreise in Kauf nehmen müssen.

Subventionen führen zu unerwünschten Verteilungswirkungen

Die Subventionen für batterieelektrisch angetriebene Fahrzeuge – vor allem bei SUVs – kann man als teuer und ineffizient bewerten, zudem führen sie zu unerwünschten Verteilungswirkungen. Diese werden noch dadurch verschärft, dass die Ladestationen leichter in Eigenheimvierteln für alle verfügbar zu machen sind als in Vierteln mit dichtem Geschosswohnungsbau.

Im Ergebnis werden die einen beruhigt im subventionierten Hybrid- oder E-Auto fahren, die anderen beengt mit dem öffentlichen Nahverkehr. Dessen Ausbau läuft allen Wünschen und Notwendigkeiten hinterher. Das liegt am Geld, vor allem aber an den Planungs- und Genehmigungsverfahren.

In den Wahlprogrammen fast aller demokratischen Parteien findet sich der Hinweis, die Ökostromumlage in den Bundeshaushalt zu überführen. Dafür gibt es sowohl gute energie- und klimapolitische Gründe – Stichwort Sektorkopplung – als auch ordnungs- und verteilungspolitische Argumente.

Derzeit finanziert die EEG-Umlage die Subventionen für Immobilienbesitzer, bezahlt wird sie aber von allen privaten Haushalten unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit. Das würde bei einer Finanzierung über Steuern anders, die Umverteilung von unten nach oben wäre beendet. Doch die 16 Milliarden Euro, die ab 2022 leicht ansteigend vom Bund zusätzlich zu finanzieren sind, erforderten Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen an anderer Stelle.

Eine große Staatsreform ist notwendig

Noch schwieriger wird es, wenn die Infrastrukturinvestitionen für den Netzausbau aller Art nun wirklich geleistet werden sollen. Bislang konnte sich der Bundesfinanzminister darauf verlassen, dass die budgetierten Beträge nicht vollständig abfließen, so auch beim Klima- und Energiefonds.

Eine große Staatsreform benötigen wir nicht nur angesichts der offenkundigen Mängel in der Pandemie, sondern ebenso für die Ermöglichung des Strukturwandels zur klimaneutralen Industrie. Dann aber werden die bisher im Finanzplan eingestellten Beträge nicht ausreichen. Ihre Erhöhung trifft jedoch schnell an die Grenze, die durch die Regelungen zur Schuldenbremse definiert ist – oder erfordert massive Steuererhöhungen.

Das dürfte kaum der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen und ihrer für den Strukturwandel benötigten Finanzkraft dienen. Genauso wenig würden sie der Innovationsleistung zuträglich sein, auf die wir im Lichte der Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten mit mehr Zutrauen setzen sollten. Stimmen die Bedingungen, beispielsweise durch einen angemessenen CO2-Preis, dann finden Suchprozesse nach Neuem auch statt, schneller jedenfalls als bei technologiespezifischen Subventionsversprechen.

Schließlich noch ein Blick auf die internationalen Zusammenhänge: Allen ist klar oder sollte klar sein, dass der Klimaschutz nur international zum Erfolg führt. Jede nationale Agenda muss darauf gerichtet sein. Doch dem Pariser Abkommen fehlt eine Verhandlungslogik, die den Ländern in einem anderen Entwicklungsstadium verhandelbare Vorteile aus der Klimaneutralität verschafft.

Klimaschutz bedarf internationaler Kooperation

Und nicht vergessen sollte man: In der letzten Dekade hat China so viele Kraftwerke für fossile Brennstoffe neu gebaut, dass allein deren Kapazität den Bedarf Europas erreicht.

Internationale Lösungen können begünstigt werden, wenn bestehende Klimaclubs – wie die Europäische Union – zeigen, dass CO2-Neutralität erreichbar sein kann, ohne massiv und dauerhaft an Wohlstand einzubüßen. Das setzt voraus, dass wir die Wechselwirkungen nicht ignorieren, sondern ihr Konfliktpotenzial auflösen. Das bedeutet nicht zuletzt, Klimapolitik auch als verteilungspolitische Herausforderung zu betrachten, indem jene Gruppen kompensiert werden, die dadurch besondere Einbußen erleiden.

Hinzu kommt: International ernst genommen wird man in Zeiten der „Global Power Competition“, des Wettstreits der großen Mächte, nur, wenn man seine internationale Verantwortung umfassend wahrnimmt. Deshalb muss Deutschland mehr für seine Verteidigung leisten, so, wie es grundsätzlich zugesagt ist.

Dann werden wir Europäer eine Chance haben, die USA für einen Klimaclub mit gemeinsamem CO2-Mindestpreis und einem Grenzausgleichsregime zu gewinnen. Dies erst wäre global ein starkes, nicht zu übergehendes Signal für andere Regionen der Welt und schaffte so neue Verhandlungschancen.

Wir müssen wieder lernen, über Inhalte zu streiten

Erfolg wird sich für das große Ziel Klimaneutralität einstellen, wenn in allen Parteien mit Mythen und Denkblockaden aufgeräumt wird, sodass ein gesamthafter Ansatz gelingen kann. Transparenz und Ehrlichkeit im Umgang mit Wechselwirkungen und Kosten sowie der Versuch, die damit verbundenen Konflikte aufzulösen, bieten zugleich die Chance, dem irrlichternden Wahlkampf eine sachliche Grundlage zu verschaffen.

Das sollte die Wähler nicht schrecken, es dürfte sie vielmehr aufrütteln. Denn uns allen muss es darum gehen, demokratische Prinzipien und Verfahren in der Klimapolitik überzeugend wirksam werden zu lassen. Wir müssen wieder lernen, über Inhalte zu streiten, um letztlich Lösungen zu erringen.

Zum Gastbeitrag im Handelsblatt.

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