Zeitgewinn schafft in der Pandemie keinen Zugewinn an Sicherheit. Das sollten Bundeskanzlerin und Länderregierungschefs vor ihrer nächsten Sitzung am 3. März erkennen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag in der WirtschaftsWoche.
Lasst uns noch drei Wochen warten?!
Zwar sind seit der letzten Beschlussfassung zum Umgang mit Corona die Sieben-Tage-Inzidenz und die Auslastung der intensivmedizinischen Kapazitäten mit Covid-19-Patienten deutlich zurückgegangen, doch zuletzt stagnieren die Neuinfektionszahlen bestenfalls. Vor allem die britische Mutante scheint sich durchzusetzen; der Impffortschritt ist erschreckend langsam, eine digitale Strategie für Testung und Nachverfolgung fehlt weiterhin.
Die bisherige Logik aus Zuwarten und erneutem Verlängern des Lockdowns überfordert die gesellschaftliche Spannkraft ebenso wie die ökonomische Existenzsicherung. Denn Erwachsene und Kinder, Lehrer und Schüler, Arbeitgeber und Beschäftigte können nicht über Monate mit der vagen Aussicht auf eine Normalisierung von eben dieser ferngehalten werden. Und kein Unternehmer kann und will sein Geschäft mit Schulden überhäufen, um dann auf unsichere Hilfen zu warten, geschweige denn nur damit für längere Zeit durchhalten. Perspektivlosigkeit wendet sich in Frust, Enttäuschung und Tatenlosigkeit; zur Beschäftigungslücke kommt so eine Investitionslücke.
Auch wenn wir es immer noch mit einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" zu tun haben, entbindet dies nicht die Politik von der Verpflichtung, unsere Gesellschaft so wenig wie irgend möglich einzuschränken. Dies verlangen schon das Gebot der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot. Dass diese Grundsätze der Politik bisher zu wenig Führung gaben, hängt mit der zwar erklärbaren, aber dennoch fatalen Kurzfristorientierung zusammen, die sich faktisch zu einer Langfristbindung gewandelt hat. Im Ergebnis wurden nachhaltig wirksame Maßnahmen, wie der besondere Schutz der Alten- und Pflegeheime oder die Entwicklung einer digital gestützten Test- und Tracing-Kampagne, zu spät und schlecht abgestimmt aufgesetzt.
So entsteht der Eindruck eines systematischen Versagens beim Krisenmanagement. Unser föderaler Staatsapparat ist dafür auch nicht gewappnet: So fehlt es an klaren Weisungsmöglichkeiten bis zu den Kommunen; das Infektionsschutzgesetz endet faktisch auf der Ebene der Länder. Ebenso mangelt es an der jetzt so dringend benötigten Offenheit gegenüber innovativen Ideen wie etwa der systematischen Einbindung der Luca-App in die Infektionsnachverfolgung. Die Verwaltung, an deren Funktionieren die Deutschen bislang glaubten, hat sich eingemauert, jeder für sich und so alle gemeinsam: Bund, Land und Kommunen.
Die für Anfang März angekündigte Zulassung von Antigen-Schnelltests für die Arbeitswelt und das private Leben im öffentlichen Raum eröffnet Chancen der Normalisierung. Die Testierung der Ergebnisse wäre der Probelauf für den digitalen Impfpass, der in Israel den Zugang zum öffentlichen Leben regeln soll. Statt bei uns daran zu arbeiten, wird stattdessen darüber lamentiert, ob durch die Aufhebung der Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte illegitime Privilegien gewährt würden. Dabei lassen erste Studien und Erfahrungen aus Israel hoffen, dass die Impfung nicht nur die Erkrankungen, sondern genauso die Infektiösität verringert. Die nächste Unterlassung im Krisenmanagement ist damit programmiert.
Die Politik scheint in der Falle eines absoluten Gesundheitsschutzversprechens erstarrt, aus der sie nicht herauskommen wird, ohne Vertrauen zu verlieren. Doch das ist schon verspielt, das Versprechen lässt sich nicht einhalten. Auch wenn die ZeroCovid-Kampagne ein künftiges Leben ohne SARS-CoV-2 - zweifellos eine wünschbare Vorstellung - verheißt: So wird es nicht kommen. Einer Mehrheit der Virologen zufolge ist - so jüngst im Wissenschaftsmagazin "Nature" zu lesen - ein komplettes Eliminieren des Virus mittelbar nicht möglich; wir werden lange mit einem endemischen Phänomen und somit leider auch mit Sterblichkeit dadurch zu tun haben, so traurig und bitter das ist.
Trotzdem sind angesichts der begonnenen Impfung große Fortschritte gegenüber der Lage vor einem Jahr zu verzeichnen. Der dadurch entstehende Freiraum muss genutzt werden, sich der Folgeschäden der Pandemie und ihrer Bekämpfung anzunehmen. Die Schulpolitik muss den Ausfall der Bildungszeiten ausgleichen, mittels halbierter Klassen, angepasster Stundentafeln, individueller Förderung. Kultur und Sport gewinnen durch ihre gesellschaftliche Integrationskraft neue Bedeutung. Die Wirtschaftspolitik muss für qualitativ hochwertiges Wachstum kluge Investitionsanreize schaffen und den Standort steuerpolitisch attraktiv machen.
Nicht zuletzt aber: Staatlicherseits muss wieder das administrativ geleistet werden, was politisch versprochen wird. Unser föderaler Staatsaufbau muss neu aufgestellt werden, mit krisenpolitischer Kompetenz und gemäß den Bedingungen der digitalen Transformation. Prozesse sowie das Management von Schnittstellen dominieren institutionelle Grenzen. Die kommunale Selbstverwaltung muss kompromisslos vernetzungsfähig werden. Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf einen leistungsfähigen Staat - und zwar nicht nur in der Krise, die seine Schwächen schonungslos aufdeckt, sondern genauso im neuen Normal.
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