Die bisherigen Erfahrungen in der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik helfen in dieser Krise nicht weiter. Nötig sind jetzt komplett neue Konzepte, fordern Michael Hüther und Bert Rürup.
Zeitenwende für Ökonomen: Geld-, Finanz- und Lohnpolitik müssen neu gedacht werden
Der Begriff Zeitenwende wird zum Codewort unserer Epoche, denn er markiert einen historischen Umbruch. Bislang dominante Bedingungen verlieren ihre Prägekraft, neue Strukturen treten an deren Stelle.
Dies trifft auch für die makroökonomischen Politikbereiche zu: die europäische Geldpolitik, die nationale Finanzpolitik sowie die autonome Lohnpolitik der Tarifvertragsparteien.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erweist sich ökonomisch als massiver Angebotsschock. Er verschärft die Lieferkettenprobleme, die durch die Coronapandemie entstanden sind, und sorgt für eine große Unsicherheit, die die Planungen der Unternehmen erschwert.
Die makroökonomischen Probleme behindern die Produktion der Unternehmen und senken die Kaufkraft der privaten Haushalte.
Dazu kommen die Herausforderungen des Strukturwandels, die unabhängig von Pandemie und Ukrainekonflikt seit Längerem bestehen. Primär handelt es sich um die Dekarbonisierung von Produktion, Konsum und Energieerzeugung. Es geht um den Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter, wahrhaft eine Jahrhundertaufgabe.
Tradierte Orientierungen verlieren ihre Bedeutung
Ebenso fordert die digitale Transformation die Unternehmen auf, ihre Geschäftsmodelle zu überprüfen. Dieser Umbau ist für den Weg zur Klimaneutralität zentral und betrifft nahezu alle Wirtschafts- sowie Lebensweisen.
Die demografische Alterung in nahezu allen OECD-Staaten wird die Wachstumsperspektiven zudem nachhaltig beeinträchtigen. Aus alldem folgt, dass die Bedingungen und Optionen der Wirtschaftspolitik sich grundlegend ändern und tradierte Orientierungen ihre Bedeutung verlieren.
Die europäische Geldpolitik ist aktuell durch eine importierte Inflation bei Energieträgern und eingeführten Vorleistungen gefordert – also durch einen Teuerungsschub, der primär keine monetären oder binnenwirtschaftlichen Ursachen hat.
Diesem nur mit den Mitteln der Geldpolitik zu begegnen, ist zum Scheitern verurteilt. Der oft bemühte Vergleich mit der Politik der Deutschen Bundesbank in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre verkennt die Unterschiede der Bundesrepublik und der 1999 etablierten Europäischen Währungsunion.
In einem gemeinsamen Währungsraum gilt es gleichzeitig, das Risiko eines Auseinanderdriftens, wenn nicht sogar Zerbrechens dieser Währungsgemeinschaft zu beachten. Zudem hatte die Bundesbank bereits vor der ersten Ölpreiskrise (1974) mit einem länger angelegten Lohndruck zu kämpfen, während die EZB bisher nicht durch eine Lohn-Preis-Spirale gefordert ist.
Die Notenbankpolitik, die sich an der reinen Geldmengenentwicklung orientiert hat, ist weltweit gescheitert; und die direkte Inflationssteuerung hat ebenso versagt wie die kommunikative Steuerung der Markterwartungen (Forward Guidance). Angesichts des dominanten Inflationsimports stellt sich daher die Frage nach der angemessenen Orientierung für die Geldpolitik.
Die Märkte fürchten eine Fragmentierung der Euro-Zone
Die EZB musste seit ihrer Gründung vor 23 Jahren noch nie ernsthaft gegen die Inflation kämpfen. Zudem zeigt die jüngste Entwicklung der Risikoaufschläge für südeuropäische Staatsanleihen, dass den Märkten die mögliche Fragmentierung der Euro-Zone Sorge bereitet.
Trotz verbesserter Strukturdaten für die südeuropäischen Staaten und trotz institutioneller Neuerungen in der Euro-Zone (unter anderem ESM, Resolution Funds, Next Generation EU) wurden Erinnerungen an die Staatsschuldenkrise wach. All das verdeutlicht die konzeptionelle Herausforderung der Geldpolitik.
Die Lösung liegt in einer abgestimmten Kombination aus Zinsschritten und Kommunikation. Sie muss einerseits Reputationsschäden vermeiden, die bei einer Entankerung der Inflationserwartungen drohen, und andererseits eine gesamtwirtschaftliche Überforderung und damit ein wirtschaftliches Auseinanderdriften der Euro-Zone verhindern.
Die Geldpolitik kann an der Inflationsfront letztlich nur erfolgreich sein, wenn die Lohnpolitik und die Finanzpolitik eine Entlastung gewähren. Doch selbst in diesem Fall bleibt angesichts der weltpolitischen Lage das Risiko weiterer exogener Preisschocks bestehen, gegen die die Politik der EZB ebenso machtlos ist wie die nationale Fiskal- und Einkommenspolitik.
Dennoch haben Finanzpolitik und Lohnpolitik, zumal in Deutschland, eine Stabilisierungsverantwortung. Die Lohnpolitik orientiert sich mit Blick auf Beschäftigung und ihre Verantwortung zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage an der trendmäßigen Produktivität und der Inflationsnorm der EZB.
Dieser Ansatz stammt aus einer Zeit, als die Unterbeschäftigung hoch und die Erwerbsbeteiligung vergleichsweise gering waren. Dies hat sich grundlegend verändert, viele Sektoren prägt heute der Fachkräftemangel.
Infolgedessen liegt der Zuwachs der gezahlten Bruttolöhne und -gehälter seit 2012 deutlich über dem der Tariflöhne. Hier sorgen Knappheitsprämien für zusätzliche Dynamik.
Der Wildwuchs an Sondervermögen schwächt die Transparenz der Budgetplanung
Die Finanzpolitik steht unverändert unter dem Eindruck der „goldenen Dekade“ nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Ab dem Jahr 2012 konnten Überschüsse im Staatshaushalt generiert werden, sodass die Schuldenquote von über 80 Prozent in Relation zur gesamtwirtschaftlichen Leistung nach dieser bislang heftigsten Rezession der Nachkriegszeit auf unter 60 Prozent vor der Pandemie zurückgeführt werden konnte.
Maßgeblich war neben der geringeren Zinslast die Dynamik der Steuer- und Beitragseinnahmen infolge boomender Beschäftigung. Die Regeln der Schuldenbremse, seit 2009 im Grundgesetz, waren dabei allenfalls unterstützend.
Die jährlich mögliche Neuverschuldung von 0,35 Prozent des BIP entsprach 2009 den Erfahrungen mit den geleisteten öffentlichen Investitionen. In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, dass dieser Spielraum nicht reicht, denn es wurden in erheblichem Maße Sondervermögen mit und ohne eigene Verschuldungskompetenz eingerichtet.
Darin waren bereits Ende des Jahres 2020 über 100 Milliarden Euro geparkt und dem normalen Haushaltsverfahren entzogen. Das entspricht etwa einem Drittel der geplanten Ausgaben des Bundes pro Jahr. Dieser Wildwuchs widerspricht dem Gesamtdeckungsprinzip des öffentlichen Haushalts und schwächt die Transparenz der Programmfunktion des Budgets.
Nun steht Deutschland vor erheblichen Herausforderungen im Strukturwandel, die zwar im Wesentlichen durch private Investitionen zu bewältigen sind, aber dennoch infrastrukturpolitische Vorleistungen erfordern. Dies kann nicht mit dem Verweis auf Regeln beantwortet werden, die auf Erfahrungen von vor 15 Jahren beruhen, es sei denn, man würde massiv in die Ausgabenstruktur eingreifen.
Die Finanzpolitik braucht flexiblere Spielräume, um nicht nur die Infrastruktur schnell und umfassend zu modernisieren, sondern auch um unverschuldet in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene private Haushalte und Unternehmen unterstützen zu können.
All dies zeigt: Die Zeitenwende stellt für die Makropolitiken eine reale Herausforderung dar.
Bewährte Erfahrungen wurden entwertet. Alle drei Politikfelder müssen neu bedacht und neu koordiniert werden. Die Debatte dazu hat eben erst begonnen.
Zwischen Schuldentragfähigkeit und Investitionsbedarf
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IW
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