Die Starken müssen den Schwachen helfen. Jetzt ist der Moment, wo die oft beschworene Schicksalsgemeinschaft Europa Flagge zeigen muss. Ein Aufruf führender Ökonomen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, darunter IW-Direktor Michael Hüther. Der Beitrag erschien übersetzt in New Statesman, Le Monde, Het Financieele Dagblad und El Mundo.
Europa muss jetzt finanziell zusammenstehen
Die Corona-Pandemie trifft Europa menschlich und ökonomisch schwer. Die Auswirkungen der Krise stellen unsere Gesundheitssysteme auf eine extreme Probe. Die weitreichenden gesundheitspolitischen Maßnahmen sind unumgänglich, aber sie vermindern die Wirtschaftstätigkeit, und sie gefährden die Existenz von Unternehmen und Arbeitsplätzen.
Der Staat ist gefordert, die gravierenden ökonomischen Auswirkungen durch Liquiditätshilfen und direkte Transfers so gut es geht abzufedern. Das wird sehr hohe öffentliche Mittel erfordern. Alle Länder müssen in der Lage sein, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Bevölkerung zu schützen, die Wirtschaft zu stabilisieren und sie nach der Krise schnell wieder zu beleben.
Damit dies für alle Mitgliedstaaten unabhängig von der Haushaltslage möglich ist, muss Europa in dieser Krise finanziell zusammenstehen. Die Starken müssen den Schwachen helfen. Jetzt ist der Moment, wo die oft beschworene Schicksalsgemeinschaft Europa Flagge zeigen muss.
An den Finanzmärkten herrscht aktuell Zweifel am Willen und der Fähigkeit der europäischen Staaten. Die Rendite zehnjähriger Anleihen Italiens ist bereits merklich gestiegen. Auch wenn die Reformen im Bankensystem seit der Krise von 2008 ihre Wirkung zeigen und die Banken stabiler sind, so bergen die nicht absehbare Dauer der Krise und die schon jetzt massiven Einkommensverluste enorme Risiken für die Zukunft. Eine zentrale Lehre aus der letzten Krise ist, dass ein frühzeitiges und proaktives Handeln gefordert ist, damit Zweifel an der Stabilität des Bankensystems gar nicht erst aufkommen und spekulative Attacken im Keim erstickt werden.
Wie kann diese Herkulesaufgabe bewältigt werden? Europäische Solidarität und Risikoteilung können und müssen jetzt einen entscheidenden Beitrag leisten. Die Geschichte zeigt, dass sich Länder in schweren wirtschaftlichen Krisen immer wieder gegenseitig unterstützt haben. So hat beispielsweise die Europäische Gemeinschaft zur Bekämpfung der Konsequenzen der Ölkrise von 1974 eine Gemeinschaftsanleihe emittiert.
Die Länder der Eurozone sind gleichzeitig mit einem Angebots- und einem Nachfrageschock konfrontiert. Eine Industrierezession und eine Konsumrezession treffen zusammen. Gesunde Unternehmen mit einem guten Geschäftsmodell sehen sich plötzlich aufgrund gravierender Liquiditätsprobleme vor dem Zusammenbruch. Ohne massive staatliche Hilfen käme es zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, einer massiven Konsumzurückhaltung und zu einer Eskalation der Krise. Liquiditätshilfen durch Kredite, Bürgschaften und Steuerstundungen sowie die Reduktion der Arbeitskosten durch das Kurzarbeitergeld sind wichtige Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage, aber sie werden nicht ausreichen.
1000 Milliarden Krisen-Anleihen
Es bedarf umfangreicher staatlicher Hilfen vor allem für die vielen kleinen Unternehmen (Einzelunternehmer, Freiberufler, Kleingewerbetreibende, Soloselbständige), aber auch für mittlere und größere Unternehmen. International aufgestellte Konzerne haben bessere Möglichkeiten, die finanzielle Lage auszutarieren, doch mit andauernder Krise dürfte auch deren Lage prekär werden.
Die erforderlichen fiskalischen Maßnahmen im Sinne eines „whatever it takes“ werden in allen Ländern sehr hohe Mittel erfordern. Die europäischen Staaten haben jedoch unterschiedliche Handlungsspielräume in den öffentlichen Haushalten. Es muss vermieden werden, dass die Corona-Krise zu einer zweiten Staatsschuldenkrise wird. Die aktuelle Krise bedarf deshalb eines gemeinsamen starken Signals an die Finanzmärkte, dass Wetten gegen die Eurozone oder einzelne Mitgliedstaaten keinen Sinn machen. Im Vergleich zur Euro-Krise steht die Fiskalpolitik dabei unter fundamental veränderten Bedingungen. Insbesondere entziehen sich die jetzt erforderlichen Hilfen der Forderung der Konditionalität, die bei den Maßnahmen in den Jahren ab 2010 ihre Berechtigung hatte.
Die Strategie, die wir vorschlagen, setzt auf Krisen-Anleihen mit einer gemeinschaftlichen Haftung und bringt damit die europäische Finanzpolitik in die Verantwortung. Dazu gehört eine starke, aber ergänzende Rolle für die Europäische Zentralbank als Garant der Stabilität der Märkte und der Transmission der Geldpolitik. Die EZB hat schon auf die steigenden Risikoprämien für italienische Staatsanleihen reagiert. Jetzt ist ein gemeinschaftliches unmissverständliches Handeln der Staaten gefordert.
Gemeinschaftsanleihen sind jetzt notwendig, um die Kosten der Krise auf viele Schultern zu verteilen. Damit kann man den besonders betroffenen Ländern beistehen und verhindern, dass sie unverschuldet in eine Solvenzkrise geraten. Die Länder der Eurozone sollten dafür begrenzt auf diese Krise Gemeinschaftsanleihen in Höhe von 1000 Milliarden Euro emittieren (rund 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone). Aus diesem Pool können Mitgliedstaaten unterstützt werden, wenn sie den Zugang zum Kapitalmarkt zu verlieren drohen. Aufgrund der gemeinschaftlichen Haftung würde sich die Verschuldung der am meisten betroffenen Staaten vergleichsweise wenig erhöhen. Entscheidend ist dabei, dass es sich um einen Notfallfonds zur Krisenbewältigung handelt, also um eine einmalige Maßnahme, wie bei der Gemeinschaftsanleihe aus der Zeit der Ölkrise. Die Laufzeit der Anleihen sollte möglichst langfristig sein. Die Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen sollten sich an den Anteilen orientieren, die die Mitgliedstaaten am Kapital der EZB halten.
Die auf diese Weise geschaffenen Anleihen würden gleichzeitig „Safe Assets“ für die Banken der Eurozone schaffen. Dadurch würde das Risiko Gefahr eines Teufelskreises (doom-loop) zwischen angeschlagenen Banken und schwachen Staatsfinanzen reduziert werden.
Es ist davon auszugehen, dass das vorgesehene Volumen am Kapitalmarkt zu günstigen Finanzierungskonditionen zu plazieren ist. Andernfalls wäre zu prüfen, ob die Geschäftsbanken bei der Zeichnung vorrangig bedient werden, die dann diese Bonds bei der EZB zur Refinanzierung einreichen können.
Solche Gemeinschaftsanleihen wären ein deutliches Zeichen, dass Europa in der Krise zusammensteht. Das Signal wäre nicht zu überhören. Nicht ein einzelnes überfordertes Land tritt als Bittsteller auf. Die Europäer bewältigen die Krise gemeinsam. Es gibt durch die Verschuldung kein Stigma.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist eine Institution aus einer anderen Zeit. Er sollte deshalb in dieser Situation nicht aktiv werden. Zu prüfen wäre aber, ob der ESM nicht für eine schnelle und verlässliche Umsetzung beauftragt werden kann, die Solidaritäts-Anleihen zu emittieren und die Finanzierung in den Mitgliedstaaten zu steuern, ohne dass dabei unnötige Hürden nationaler Zustimmungsrechte verzögernd wirken.
Zudem sollte die EZB – wie mit dem neuen Pandemie-Notfallankaufprogramm für 750 Milliarden Euro begonnen – in der Lage sein, die Anleihemärkte zu stabilisieren. So kann sie Spekulationen über Stabilität der Staatsfinanzen und damit über die Refinanzierung von Altschulden von Anfang an unterbinden. Dazu sollten die Auflagen für die ESM-Programme temporär außer Kraft gesetzt werden. Dies ist für die Liquidität und Integrität der Anleihemärkte zentral und zugleich eine flankierende Maßnahme gegen die Spekulation.
Gemeinschaftliche Haftung
Schließlich werden größere Ressourcen erforderlich sein, um ein Sicherheitsnetz für die Banken der Eurozone aufzuspannen. Hier kann auf existierende Institutionen wie den ESM und deren Expertise zurückgegriffen werden. Dabei geht es darum, dass ausreichend Mittel für die Rekapitalisierung von Banken vorhanden sind. Die hierfür verfügbaren Mittel des ESM sollten von 60 Milliarden auf 200 Milliarden Euro aufgestockt werden, was in etwa 50 Prozent der Marktkapitalisierung der Banken der Eurozone entspricht. Dies würde dazu beitragen, dass keine Zweifel an der Solidität der Banken aufkommen. Dieser Mechanismus muss flexibel und nicht erst dann eingesetzt werden, wenn die Ressourcen des betroffenen Mitgliedstaates erschöpft sind. Damit kann verhindert werden, dass es zu einer gefährlichen Selbstverstärkung von schwachen Banken und einem sinkenden Marktvertrauen in die Stabilität der Staatsfinanzen kommt.
Diese Krise ist von hoher, unabsehbarer Dynamik. Sie bedarf deshalb starker Signale politischer Handlungsfähigkeit. Das jüngste Anleihekaufprogramm der EZB hat ein Zeichen gesetzt, dass die EZB tut, was geboten ist, um die Märkte in der Eurozone zu stabilisieren. Aber der politische Handlungswille darf jetzt nicht erlahmen. Diese Dynamik war in der Euro-Krise oft zu beobachten: Nach jedem beherzten Eingreifen der EZB ließen die politischen Anstrengungen nach. Dies ist uns teuer zu stehen gekommen.
Es gilt jetzt, keine Zeit zu verlieren. Je länger die gegenwärtige Krise anhält, umso deutlicher werden die Unterschiede in der Fiskalsituation in Europa werden. Das würde Europa trennen, wenn es zusammenstehen muss.
Peter Bofinger war Mitglied des Sachverständigenrats. Sebastian Dullien ist Direktor des gewerkschaftsnahen Wirtschaftsforschungsinstituts IMK. Gabriel Felbermayr ist Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Christoph Trebesch leitet die Finanzmarktabteilung des IfW. Michael Hüther ist Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Moritz Schularick (Bonn) und Jens Südekum (Düsseldorf) sind Professoren für Volkswirtschaftslehre.
Zum Beitrag in der FAZ.
Der Beitrag erschien zudem in New Statesman, Le Monde, Het Financieele Dagblad und El Mundo.
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