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Wido Geis-Thöne in der WirtschaftsWoche Gastbeitrag 4. Oktober 2022

Babyboomer verlassen den Arbeitsmarkt: Warum Deutschland das besonders schwer trifft

Wenn in den kommenden Jahren die Babyboomer in Rente gehen, wird sich die Fachkräftelücke dramatisch verschärfen. Helfen könnte Migration – doch müssen wir dabei das außereuropäische Ausland in den Mittelpunkt stellen, schreibt IW-Ökonom Wido Geis-Thöne in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche.

Auch wenn sich die Lage in den vergangenen Monaten in vielen Bereichen deutlich verschärft hat, sind Fachkräfte-Engpässe kein neues Phänomen. Bereits im Frühjahr 2019 gaben in einer Befragung 61 Prozent der Unternehmen an, dass Fachkräfteengpässe ein hohes Risiko für ihre Geschäftsabläufe darstellen, womit diese weit häufiger genannt wurden als alle anderen zu diesem Zeitpunkt potenziell relevanten Risikofaktoren (Grömling und Matthes, 2019). Zumindest aus gesamtwirtschaftlicher Sicht stellt die Pandemiezeit mit ihrem vor dem Hintergrund von Lockdowns und unterbrochenen Lieferketten stark eingebrochenen Personalbedarf eine Art Verschnaufpause am Arbeitsmarkt dar, sodass eine langfristige Perspektive notwendig ist, um die aktuelle Lage richtig einzuordnen.

Das Grundproblem ist der demografische Wandel, der nicht allein Deutschland betrifft. Waren die Geburtenzahlen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark rückläufig, kam es in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der gesamten westlichen Welt nochmals zu einem Babyboom, der nicht nur auf ein Nachholen während des Zweiten Weltkriegs nicht möglicher Familiengründungen, sondern auch auf ein deutlich verändertes Heiratsverhalten zurückzuführen ist (Van Bavel und Reher, 2013).

In den 1960er Jahren änderte sich dies mit der zunehmenden Emanzipation und Gleichstellung der Frauen wieder grundlegend. Ehe und Kinder verloren an gesellschaftlicher Bedeutung (Lesthaeghe, 2014). Gleichzeitig standen den Paaren jetzt bessere Verhütungsmethoden zur Verfügung, die es für sie leichter machten, den Eintritt einer ungewollten Schwangerschaft zu vermeiden, sodass es zu einem starken Absinken der Geburtenzahlen auf Werte weit unterhalb des für den Bestandserhalt notwendig Niveaus von rund 2,1 Kindern je Frau kam. Langfristig hat dies ohne Zuwanderung deutliche Bevölkerungsrückgänge zur Folge, denen bislang allerdings auch eine steigende Lebenserwartung entgegengewirkt hat. Inzwischen ist ein Punkt erreicht, an dem die aus den Arbeitsmärkten ausscheidenden Jahrgänge deutlich geburtenstärker sind als die nachrückenden.

Deutschland ist hiervon in besonderem Maße betroffen, da der Babyboom hierzulande einen sehr spezifischen Verlauf hatte. So war die Zahl der Geburten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst eher niedrig und erreichte auch in der ersten Hälfte der 1950er Jahre erst ein Niveau von 1,1 Millionen pro Jahr. Dann erfolgte allerdings ein starker Anstieg auf 1,4 Millionen in den Jahren 1963 und 1964 (Statistisches Bundesamt, 2016).

Dass der Babyboom so spät eingesetzt hat, lässt sich damit erklären, dass die Lage für die Bevölkerung in Deutschland lange Zeit sehr schwierig war und es erst ab den 1950er Jahren zu Wachstum und Wohlstand kam. Zudem ist im Blick zu behalten, dass in der NS-Zeit eine stark pronatalistische Bevölkerungspolitik betrieben wurde, sodass ab Mitte der 1950er Jahre auch vergleichsweise viele junge Menschen in ein Alter kamen, in dem typischerweise eine Familiengründung erfolgte.

Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam es dann zu einem regelrechten Einbruch der Geburtenzahlen bis auf nur noch 780.000 im Jahr 1975 (Statistisches Bundesamt, 2016). Dieser geht zwar maßgeblich auf die überall in der westlichen Welt zu beobachtende Veränderung des Geburtenverhaltens zurück. So lag die zusammengefasste Geburtenziffer in Westdeutschland 1975 bei 1,45 Kindern je Frau im Vergleich zu 2,54 im Jahr 1964 (Statistisches Bundesamt, 2016).

Anders als in den anderen Ländern wurde er allerdings noch dadurch verstärkt, dass nun vor dem Hintergrund der niedrigen Geburtenzahlen und gleichzeitig noch substanzieller Kindersterblichkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit vergleichsweise wenige Frauen und Männer in das Alter kamen, in dem typischerweise eine Familiengründung erfolgte. Daher stellt auch das Ausmaß des Rückgangs der Geburtsjahrgänge um 42 Prozent zwischen 1964 und 1975 eine deutsche Besonderheit dar. Später stiegen die Geburtenzahlen zwar wieder leicht an, erreichen mit einem Höchstwert von 910.000 im Jahr 1990 aber nur noch rund zwei Drittel des Niveaus der frühen 1960er Jahre (Statistisches Bundesamt, 2016).

Für die aktuelle Lage am Arbeitsmarkt ist noch eine zweite weniger gravierende demografische Entwicklung von Bedeutung, die spezifisch für Deutschland ist. Hier ist es in den späten 1990er und 2000er Jahren zu einem deutlichen Rückgang der Geburtenzahlen bis auf nur noch 670.000 im Jahr 2009 und 660.000 im Jahr 2011 gekommen (Statistisches Bundesamt, 2016).

Ausschlaggebend hierfür waren vor allem vergleichsweise wenige potenzielle Mütter. Die zusammengefassten Geburtenziffern hatten bereits 1994 mit 1,24 ihren Tiefstwert erreicht und schwankten seit den späten 1990er Jahren auf einem niedrigen Niveau zwischen 1,3 und 1,4 Kindern je Frau. In den Folgejahren ist es dann allerdings wieder zu einem Anstieg sowohl der Geburtenzahlen als auch der zusammengefassten Geburtenziffern bis auf 792.000 Geburten und 1,59 Kinder je Frau im Jahr 2016 gekommen (Statistisches Bundesamt, 2022). Dieser Anstieg wird die Arbeitskräftebasis jedoch erst ab den späten 2030er Jahren beeinflussen.

Welche Geburtsjahrgänge die besonders großen Kohorten der Babyboomer am Arbeitsmarkt konkret ersetzen sollten, lässt sich nicht klar sagen, da Erwerbsbiografien teilweise sehr unterschiedlich verlaufen. Als Orientierung kann allerdings die von Eurostat 2022 ermittelte erwartete Dauer des Erwerbslebens von Männern dienen, die 2021 bei 40,7 Jahren lag. Der Wert für die Frauen ist weniger zielführend, da familienbedingte Erwerbsunterbrechungen bei ihnen eine deutlich größere Rolle spielen. Vergleicht man die Gesamtzahlen der Geburten in den Jahren 2000 bis 2004 von 3,6 Millionen und 1960 bis 1964 von 6,9 Millionen, kommt man auf ein Verhältnis von nur 55 zu 100 (Statistisches Bundesamt, 2022; eigene Berechnungen).

Geht man von der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung aus, dürfte 2022 an sich erst der Geburtsjahrgang 1956 aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Tatsächlich verlässt aber nach wie vor ein großer Teil der Erwerbstätigen den Arbeitsmarkt bereits einige Jahre früher (Geis-Thöne, 2021), sodass die Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer bereits deutlich weiter vorangeschritten ist.

Dennoch befinden wir uns noch am Anfang einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt voraussichtlich erst in den 2030er Jahren erreichen wird. Nicht nur werden die Größenunterschiede zwischen den aus dem Arbeitsmarkt ausscheidenden und nachrückenden Geburtskohorten bis 2030 immer weiter zunehmen, auch werden sich die entstehenden Lücken immer weiter akkumulieren. So dürfte sich die Lage erst wieder nachhaltig entspannen, wenn die bereits kleinen Jahrgänge der späten 1970er Jahre aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und die wieder deutlich größeren Jahrgänge der späten 2010er Jahre nachrücken.

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