Können 154 deutsche Professorinnen und Professoren irren? Unwahrscheinlich. Doch sie können übertreiben, einseitig Risiken bewerten und eine fundamentale nicht ökonomische Einsicht ausblenden, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag in der Welt.
Europapolitische Reformen: Selbstgerechte Ökonomen
Dieser aber kann man sich nicht entziehen, egal, welches Gemeinschaftsthema und welche institutionelle Ausprägung der Integration in Rede steht: Die Europäische Union ist ein Klub unberechenbarer Demokratien.
Das hat drei Konsequenzen: Erstens kann der Durchgriff der Gemeinschaftsebene nie über die nationalen Verfassungsgrenzen hinausgreifen, zweitens bedarf es immer einer gemeinsamen Sicht auf den Lösungsraum für relevante Probleme, und drittens gibt es keine Gewähr dafür, dass eingeschlagene Wege beständig national eine demokratische Legitimation erfahren.
Gerade erleben wir staunend, wie die demokratischen Entwicklungen in zwei Gründungsmitgliedstaaten – Frankreich und Italien – die europäische Integration in unterschiedliche Richtungen drängen. Während Frankreich die Stärkung der gemeinsamen Regeln und Institutionen fordert und eine engere Union avisiert, treten die künftigen Regierungsparteien in Italien für eine Entschuldung des eigenen Staates und eine bis zur Abwendung reichenden Desintegration in Europa ein. In diesem Spannungsfeld warnen die 154 deutschen Ökonominnen und Ökonomen vor den französischen Ideen und haben die italienischen Forderungen als Drohkulisse auf ihrer Seite. Doch offen bleibt, was denn europapolitisch aus Sicht der 154 anzuraten ist.
Der Hinweis auf Risiken, die sicherlich zu würdigen sind, und die Warnung vor einer Vergemeinschaftung der Haftung, die man sehen kann, werden indes nur unzureichend aufgewogen durch konstruktive Ideen. Strukturreformen voranbringen klingt gut, blendet das in den Krisenländern Geleistete aber völlig aus. Welche politische Kraft soll das vermitteln, wenn nicht zugleich neue europäische Ideen offeriert werden? Die De-Privilegierung der Staatsanleihen ist sicher eine gute Idee, ein geordnetes Austrittsverfahren hingegen eine Schimäre. Denn der Austritt aus der Euro-Zone wird immer eruptive Kapitalmarktwirkungen haben, da sollte man sich nicht naiv stellen.
Die Warnung vor einem Europäischen Währungsfonds suggeriert, dass es bei der Umsetzung nur einen Weg gibt. Unrealistisch und unangemessen erscheint hingegen, den Internationalen Währungsfonds dauerhaft zu einer europäischen Institution zu machen. Auch die einseitige Kritik an einer europäischen Einlagensicherung, die man auch als Überlaufmodell oder Rückversicherung organisieren kann, verkennt, dass dadurch der Steuerzahler besser vor Solvenzkrisen von Banken abgeschirmt wird. Dass zuvor die Altlasten in den Ländern bereinigt werden müssen, lässt sich nicht als grundsätzliches Gegenargument anführen.
Auch der Europäische Investitionsfonds kann positiv gewendet die strukturellen Unterschiede und regionalen Divergenzen kurieren helfen. Europäische Infrastrukturnetze – Verkehr, Energie, Internet – mit Blick auf den digitalen Binnenmarkt 2.0 eröffnen eine Perspektive, die Wirksamkeit Europas für die Bürger greifbar zu machen. Wie anders sollen europäische Wertschöpfungsketten entstehen?
Und was spricht eigentlich dagegen, für einen solchen Investitionsfonds eine Anleihefinanzierung (Projektbonds) vorzusehen? Wie sollen alle anderen Herausforderungen in und für Europa – die Flüchtlingspolitik, die Sicherung der Außengrenzen, gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik – gelöst werden, ohne dass sinnvolle Schritte bei den öffentlichen Infrastrukturen gelingen? Was ist uns die europäische Integration wert in einer Zeit, in der der transatlantische Konsens zerbricht und die chinesische Globalisierung einen neuen Systemwettbewerb begründet?
Eine Bewegung nach vorne kann nicht all die Ideen beinhalten, die von den 154 Ökonomen kritisiert werden. Wohl wahr. Aber nur Nein zu sagen, ergänzt um das Lamento über eine irgendwie drohende Haftungsgemeinschaft, bietet nicht nur keine Perspektive, sondern verkennt den hohen Preis dieser doch etwas selbstgerecht anmutenden Position: der Verlust einer überzeugenden europäischen Perspektive. Als Ökonomen übertreiben die 154, sie irren aber politisch. Und welchen Wert hat eine ökonomische Logik, die sich gegen das Politische immunisiert? Keine.
Zum Gastbeitrag auf welt.de
Bewährungsprobe Europas: Wettbewerbsfähigkeit in einer Welt im Wandel
Die Wettbewerbsfähigkeit rückt vermehrt in den politischen Fokus. In Zeiten geopolitischer Unsicherheiten, der Abkehr von der grenzenlosen Arbeitsteilung und sich wandelnden Wirtschaftsstrukturen muss die EU sich im Wettbewerb der Nationen als ...
IW
Deutsche Industrie unter Druck: „Erst schwächt Trump-Wahl uns, dann die USA”
20 Prozent Zoll auf EU-Importe, 60 Prozent auf Einfuhren aus China: Sollte Trump seine handelspolitischen Ankündigungen wahr machen, stehe der deutschen Wirtschaft eine harte Zeit bevor, sagt IW-Direktor Michael Hüther im Interview mit ntv. Letztlich werde ...
IW