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Michael Hüther in der Frankfurter Allgemeine Zeitung Gastbeitrag 28. Januar 2021

Wir alle sind angreifbar

Die Wissenschaft kann die Corona-Krise weder lösen noch letztgültige Antworten geben. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, Wirkungsmechanismen zu verdeutlichen und zugleich Zweifel zu erzeugen. Denn das ist ihr Wesenskern, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Wolfgang Streeck ist für seinen frischen und offenen Beitrag in dieser Zeitung vom 11. Januar 2021 zum Miteinander von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik in der Pandemie zu danken. Jürgen Renn hat in seiner Erwiderung vom 18. Januar recht: Der Beitrag ist "brillant formuliert und polemisch überspitzt". Wissenschaft sollte beides nicht scheuen, wenn es weiterführt. Denn wir ringen um Erkenntnis, die meist nur unser Nichtwissen auf Zeit zu überbrücken vermag. Und wir sind unvermeidlich gefangen in den Sichtweisen unseres Faches und in den Präferenzen unseres Interesses. Streeck hat seinen Text aus einem Unbehagen heraus geschrieben, das der Wahrnehmung einer beachtlichen Diskursbegrenzung in der Pandemieabwehr durch eine politisch definierte Handlungsverengung entspringt.

Im interdisziplinär zusammengesetzten Expertenrat Corona der nordrhein-westfälischen Landesregierung hat genau dies uns veranlasst, für eine Öffnung der Debatte zu werben und dafür ein "Verständnis künftiger Normalität" zu entwickeln, wie wir "öffentlich und privat mit diesem Virus leben können". Die Politik scheut diese Klarheit, weil sie mit einer dann naheliegenden differenzierten Strategie Gefahr läuft, der Diskriminierung geziehen zu werden und die Schuld auf sich zu ziehen, sollte es nicht besser werden. Die "flächendeckende Methode der Seuchenbekämpfung" bewahrt - so Streeck - die Politik vor diesem Risiko. Jürgen Renn formuliert dies mit Bezug auf das klimaaktivistische Bild "the house is on fire" so, dass es dann "keine differenziert verteilten Gießkannen" brauche.

Diese Perspektive führt auf direktem Weg zu einer No-Covid-Strategie, wie von einer Wissenschaftlergruppe verlangt, um "das Virus vollständig niederzuringen". Das ist eine grandiose Aussicht. Um die Erreichbarkeit des Ziels zu verdeutlichen, wird auf die Millionenstadt Melbourne verwiesen, die das in drei bis vier Wochen geschafft habe, Deutschland im Sommer 2020 nahezu. China wird interessanterweise in dem Beitrag nicht berücksichtigt - zu heikel ist wohl den Autoren die Erkenntnis, dass dies mit repressiven Methoden umfassender Kontrolle des Einzelnen durch den Staat zusammenhängt. Aber schon die Verweise auf Melbourne und Deutschland im Sommer legen die Frage nahe: Was heißt das für Deutschland im Winter, dem man eine Insellage allenfalls politisch gelegentlich zuweisen kann? Man kann nur staunen.

Die Pandemie hat die Rolle der Wissenschaften im öffentlichen Diskurs und gegenüber der Politik verändert. Gefragt sind Disziplinen, von denen man exakte Aussagen ohne Verfallsdatum erwartet. Es geht schließlich um Leben und Tod. Doch die Einsicht aus den vergangenen zehn Monaten ist: Selbst hier muss Lehrgeld gezahlt werden, und Wissen ist nur auf Zeit zu haben, selbst hier gibt es Bewertungsspielräume und nicht immer leicht auflösbare Verständnislücken. Selbst hier sind Präferenzen und Haltungen der Wissenschaftler mit im Spiel. Die naheliegende Forderung nach einem verstärkten interdisziplinären Austausch ist gut und richtig, aber nicht voraussetzungslos. Denn dieser verlangt, die Grenzen des eigenen Fachs zu taxieren und die normativen Bedingungen zu sehen, die bei der Wendung wissenschaftlicher Erkenntnis in politische Empfehlung wirken.

Die pandemiebezogene Vorlage von Streeck führt Renn zu einer allgemeinen wissenschaftspolitischen Ableitung, wenn er dafür wirbt, "die Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft mit einer Stimme sprechfähig" zu haben. Kann es das sein? Ist das realistisch? Führt uns das nicht auf ein Verständnis der Wissenschaft, die auf dem Wege konsistenter und holistischer Vervollkommnung nun ihre höchste Entwicklungsstufe erreicht? Ist das darin liegende Versprechen einer unzweifelhaften, nicht hinterfragbaren wissenschaftlichen Erkenntnis nicht eher ein Wunsch von gestern? Kann so gelingen, was als erstrebenswert beschrieben wird, nämlich "die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zur zentralen Aufgabe zu machen"?

Der Philosoph Hans Blumenberg hat vor fast 25 Jahren in dem Band "Die Sorge geht über den Fluss" kürzere Texte unterschiedlicher Ausrichtung veröffentlicht, die vielfach an dieser Schnittstelle angesiedelt sind. Einer dieser Beiträge trägt den Titel "Wissensüberdruss" und rekurriert auf Blumenbergs Befund, dass zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts der "Überdruss an der Wissenschaft" wachse, habe doch "dieselbe Wissenschaft, die der Menschheit den Untergang vorbereiten soll, ihr in demselben Augenblick die Explosion ihrer Fruchtbarkeit ermöglicht".

Blumenberg macht seine Leser, ganz unabhängig von der zeitbezogenen Motivation und Bedingtheit seiner Aussage, auf Dilemmata aufmerksam, die sich durch ihre Verknüpfung für die Wissenschaft als prägend erweisen. Es sind Dilemmata, die seitdem nicht an Bedeutung verloren haben - vielmehr das Gegenteil ist der Fall. Dazu tragen auf der einen Seite gesellschaftliche Verwerfungen und politische und ökonomische Krisen bei, auf der anderen Seite neue normative Funktionszuschreibungen für die Universität im Sinne der "transformativen Wissenschaft" oder als "Arbeit an der Krise" (Renn). All dies richtet den Blick abermals und dringlich auf die Wechselbeziehung von Wissenschaft und Gesellschaft.

Da ist erstens das Dilemma des absoluten Wahrheitsanspruchs der Wissenschaft bei nur unvollkommener Erfüllbarkeit. "Wahrheit als Ziel höchsten Ranges, als absolutes und in unserer Tradition letztinstanzlich mit der Gottheit identisches Gut ist als Argument tot", so Blumenberg. Endgültige Forderungen der Wissenschaft sind während der Pandemie dennoch vorgetragen worden, letzte Aufrufe, unabweisbare Wahrheiten vermittelnd. Dagegen würde es Blumenberg halten wie das Bundesverfassungsgericht, das mit einem Humboldt-Zitat Wahrheit als "etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" versteht. Die Vorläufigkeit allen Wissens verlangt Demut gegenüber dem Streben nach der Wahrheit, das mit der Erzeugung des Zweifels seinem Anspruch bereits auf das solideste genügt.

Da ist zweitens das Dilemma, das sich in den verschiedenen Disziplinen zwar unterschiedlich, aber doch immer unvermeidbar stellt, nämlich die Normativität der Wissenschaft. Gerade in jenen Disziplinen, die - wie die Soziologie oder die Ökonomik - sich mit dem sozial wirksamen Handeln des Menschen befassen, ist dies evident und wurde zuletzt öffentlich durch Forderungen nach einer "Pluralen Ökonomik". Nun soll hier nicht der interne Streit der Ökonomen thematisiert werden, doch dieser steht beispielhaft dafür, dass ein naiver Gebrauch der Mathematik wie in der neoklassischen Finanzmarktökonomik in die Irre führen kann.

Die Finanzkrise, darauf weist Streeck zu Recht hin, war mitgetrieben durch mathematische Risikomodelle ohne Institutionen, die mangels Marktbepreisung für jedes Derivat modellgestützt jene Informationen anboten, die zur umfangreichen Fehlallokation des Finanzkapitals führten. Die Anwendung der Mathematik ist weder voraussetzungslos noch umfassend möglich, und sie erspart uns Werturteile nicht. Analog ist jetzt zu fragen, wie weit man mit der mathematischen Modellierung sozialer Prozesse kommen kann, die stets mit Rückkopplungsprozessen aufgrund unterschiedlich motivierter Verhaltensanpassungen verbunden sind.

Diese Dilemmata begründen Überdruss an der Wissenschaft. Die damit jeweils einhergehende Überforderung führt zu Vertrauensverlusten und Abstoßreaktionen. Diese erweisen sich in unseren Zeiten als besonders schwerwiegend, denn sie treffen mit zwei bedeutsamen Trends politischer und gesellschaftlicher Veränderung zusammen: die Moralisierung und die Ökonomisierung.

Dem Überdruss an der Wissenschaft wirkt einerseits die Moralisierung entgegen, indem sie die zulässigen Fragen und die Gestaltung der akzeptablen Ergebnisse an die Werturteile Dritter bindet, die selbstermächtigt die Diskurshoheit beanspruchen. Und dem Überdruss an der Wissenschaft wirkt andererseits die Ökonomisierung entgegen, indem Märkte durch Wettbewerb um finanzielle Ressourcen die Programmdefinition der Wissenschaft übernehmen. Maßgeblich würden die Präferenzen und die Zahlungsbereitschaft der Nutzer. Beide sind für sich genommen Irrlichter, beide Wege sind isoliert bedenklich, ersterer sogar bedrohlich. Doch die Moralisierung prägt zunehmend den öffentlichen Austausch. Sie liefert dort einfach und klar Antworten und Lösungen, wo die Menschen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes hadern und in tiefsitzende, geradezu existentielle Konflikte verwoben sind.

In der Pandemie wird der Moralisierung dadurch Vorschub geleistet, dass die Sterblichkeit eine neue Aufmerksamkeit erfährt, die jedes individuelle Schicksal aus der Privatheit in die Öffentlichkeit überführt. Irritierend wird der Tod im Zusammenhang mit Corona als besonders schwerwiegend bewertet. Kann es sein, dass in unserer saturierten und an Stabilität gewöhnten Gesellschaft die Pandemie als nicht akzeptabler, keinesfalls hinzunehmender, nicht vorkommen dürfender Angriff bewertet wird? Kann es sein, dass damit eine tiefe Enttäuschung einhergeht, weil es nicht um ein Versagen oder Fehleinschätzen hier und da am Rande des Geschehens geht, sondern um die Gestaltung des Großen und Ganzen, um die Unangreifbarkeit der modernen Gesellschaft?

Keine frühere Generation hat verglichen mit der unseren mehr Zeitsouveränität, mehr Bildungskapital, bessere Gesundheit und höhere Einkommen gehabt. Und keine frühere Generation hatte mehr Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Öffentliche Infrastrukturen mit Netzwerkcharakter verschaffen immer mehr Spielraum, den individuellen Wünschen und Kompetenzen folgend der eigenen Identitätsentwicklung Raum zu geben. Wir dehnen scheinbar unsere Lebenszeit aus, doch wir entkommen der Zeitschere zwischen "Lebenszeit und Weltzeit" - nach Hans Blumenbergs so betiteltem Werk - nicht. Der Tod bleibt auch in der Moderne wirkungsmächtig, wir wollen uns aber von keinem Virus diktieren lassen, wie und wann.

Wissenschaft muss dennoch nüchtern und realistisch mit unserer Endlichkeit umgehen, auch in dieser Pandemie. "Kein Covid" oder "Zero Covid" sind dafür keine hilfreichen Orientierungen. Denn die Absolutheit verlangte absolute Vernachlässigung kollateraler Effekte. Es gibt keinen Ausweg aus der Abwägung unterschiedlicher Risikodimensionen und unterschiedlicher ethischer Einordnungen.

Wissenschaft kann das Dilemma nicht auflösen, aber sie vermag deutlich zu machen, welche Wirkungsmechanismen wie ineinandergreifen. Eindimensionale Ausrichtung der Wissenschaft vermag zwar zu ermöglichen, "gegenüber der Gesellschaft mit einer Stimme sprechfähig" zu sein, doch damit verlöre sie ihren Wesenskern: "die Erzeugung des Zweifels" (Blumenberg). Interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit findet hier ihre Funktion, indem die Engführung disziplinärer Debatten aufgebrochen wird. Doch der Gesellschaft mündiger Bürger bleibt die Anstrengung nicht erspart, mit der Vielfalt wissenschaftlicher Stimmen umzugehen. Hans Blumenberg würde das - gerade tröstend - als dem Menschen wesensgemäß bewerten, weil er nur mit dem Plural von Vorstellungen und Möglichkeiten die "Entlastung vom Absoluten" leisten kann.

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