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Gero Kunath IW-Kurzbericht Nr. 10 29. Februar 2024 Nachwehen der Ein-Kind-Politik: China im demografischen Wandel

Die chinesische Bevölkerung schrumpfte in den Jahren 2022 und 2023 – nach Jahrzehnten des Bevölkerungswachstums. Trotz des Endes der Ein-Kind-Politik und der Einführung einer Drei-Kind-Politik schafft China es nicht, seine Geburtenrate anzukurbeln und steuert auf große demografische Herausforderungen zu – mit Folgen für Chinas Wirtschafts- und Sozialmodell.

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China im demografischen Wandel
Gero Kunath IW-Kurzbericht Nr. 10 29. Februar 2024

Nachwehen der Ein-Kind-Politik: China im demografischen Wandel

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die chinesische Bevölkerung schrumpfte in den Jahren 2022 und 2023 – nach Jahrzehnten des Bevölkerungswachstums. Trotz des Endes der Ein-Kind-Politik und der Einführung einer Drei-Kind-Politik schafft China es nicht, seine Geburtenrate anzukurbeln und steuert auf große demografische Herausforderungen zu – mit Folgen für Chinas Wirtschafts- und Sozialmodell.

Der demografische Wandel hat China erreicht. Nach jahrzehntelangem Bevölkerungswachstum schrumpfte die chinesische Bevölkerung in den letzten zwei Jahren. China spürt mit erheblicher Zeitverzögerung die Nachwehen seiner Ein-Kind-Politik.

Auf einen rasanten Anstieg der Bevölkerung in den 1960er und 1970er Jahren reagierte die chinesische Regierung mit der Einführung der Ein-Kind-Politik, die von 1979 bis 2015 in Kraft war und zuletzt von der Drei-Kind-Politik abgelöst wurde – bisher ohne Wirkung. Die Zahl der durchschnittlichen Geburten pro Frau erreichte zuletzt einen historischen Tiefstand und wird sich laut Prognosen in den kommenden Jahrzehnten kaum erholen. Ein Grund hierfür sind die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die jungen chinesischen Paaren die Familiengründung erschweren.

In der Folge wird die chinesische Bevölkerung in der nahen Zukunft voraussichtlich weiter schrumpfen und altern – mit weitreichenden Folgen für das chinesische Wirtschafts- und Sozialmodell.

Bevölkerungswachstum im Wandel

Das Bevölkerungswachstum war vor Chinas Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping eine große Herausforderung für die chinesische Regierung. Maßnahmen wie die Ein-Kind-Politik ließen die demografische Entwicklung schnell von einem Extrem ins andere kippen.

Die Abbildung zeigt die historische Entwicklung der durchschnittlichen Anzahl an Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter – die sogenannte Fertilitätsrate – in China zwischen 1960 und 2021 sowie die prognostizierte Entwicklung der Rate bis zum Jahr 2050.

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Die 1960er Jahre waren das geburtenstärkste Jahrzehnt in China. Insgesamt wurden knapp 242 Millionen Kinder geboren und jede Frau im gebärfähigen Alter bekam im Durchschnitt sechs Kinder. Die chinesische Bevölkerung wuchs allein von rund 662 Millionen im Jahr 1960 auf knapp 830 Millionen im Jahr 1970 (Nationales Statistikbüro China, 2024). Die damalige Regierung unter Mao Zedong reagierte auf das rasante Bevölkerungswachstum Anfang der 1970er Jahre mit der „Später, länger, weniger“-Kampagne, welche das Mindestheiratsalter für Frauen auf 23 Jahre und für Männer auf 25 Jahre anhob. Darüber hinaus begrenzte es die zulässige Zahl an Kindern pro Paar auf zwei und schrieb einen zeitlichen Abstand von mindestens drei Jahren zwischen beiden Geburten vor.

In der Folge verlor die Geburtenentwicklung in den 1970er Jahren an Dynamik, blieb aber auf einem hohen Niveau – mit insgesamt knapp 219 Millionen Geburten und einer durchschnittlichen Fertilitätsrate von 4,1. Daraufhin verschärfte die chinesische Regierung die Maßnahmen zur Geburtenkontrolle mit der Einführung der Ein-Kind-Politik im Jahr 1979 weiter. Paaren war von nun an nur noch die Geburt eines Kinds gestattet. Mitte der 1980er Jahre wurde das Gesetz etwas gelockert und Paare ethnischer Minderheiten und solche in ländlichen Gegenden durften ein zweites Kind bekommen, falls das Erstgeborene ein Mädchen war. Die umstrittene Maßnahme zeigte Wirkung und senkte die Fertilitätsrate auf 2,7 in den 1980er Jahren und auf rund 1,7 in den 1990er, 2000er und den 2010er Jahren. In den letzten drei Jahrzehnten lag die Fertilitätsrate damit unter dem Niveau von 2,1, das nötig wäre, um die Bevölkerung stabil zu halten (Minzner, 2024). Im Jahr 2015 schaffte die chinesische Regierung daher die Ein-Kind-Politik ab und führte im Jahr 2022 sogar die Drei-Kind-Politik ein, um die Geburtenzahlen und die Fertilitätsrate anzukurbeln – bisher allerdings ohne Wirkung. Die Fertilitätsrate sank weiter und erreichte mit 1,2 im Jahr 2021 ihren vorläufigen historischen Tiefststand. Die Prognose deutet auf eine nur marginale Erholung in den kommenden Jahrzehnten hin – das Ersatzniveau der Fertilität von 2,1 wird jedoch nicht erreicht werden.

Hürden für Familien und Fertilität

Die Gründe für die ausbleibende Erholung der Geburtenzahlen liegen vor allem in den Schwierigkeiten bei der Partnersuche sowie in immensen Herausforderungen, denen chinesische Paare und Familien mit Kinderwunsch gegenüberstehen.

Neben den Geburtenzahlen und der Fertilitätsrate sind auch die Eheschließungen in China zunehmend rückläufig und fielen zuletzt auf einen historischen Tiefstand. Ein Grund hierfür ist das gravierende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der chinesischen Bevölkerung. In Zeiten der Ein-Kind-Politik kam es vermehrt zu Abtreibungen weiblicher Kinder aufgrund sozialer und kultureller Präferenzen für männliche Kinder, was zu einem Männerüberschuss führte (China Power, 2023). Im vergangenen Jahr gab es knapp 31 Millionen mehr Männer als Frauen, für die zumindest in China rein rechnerisch kein Ehepartner zur Verfügung stand.

Neben der Partnersuche ist auch die Familiengründung schwierig. Die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen machen es jungen Paaren nicht leicht. Besonders chinesische Frauen stehen unter hohem Druck. Die klassische Rollenverteilung ist in weiten Teilen der chinesischen Gesellschaft verbreitet: Frauen übernehmen knapp dreimal mehr unbezahlte Arbeit im Haushalt als Männer (World Bank Gender Data Portal, 2024). Gleichzeitig sind sie in hohem Maß in die Arbeitswelt eingebunden. Rund sechs von zehn chinesischen Frauen im erwerbsfähigen Alter sind berufstätig (World Bank Gender Data Portal, 2024). Die Geburt eines Kindes bedeutet für sie somit eine erhebliche Doppelbelastung. Darüber hinaus fürchten chinesische Frauen Diskriminierung am Arbeitsplatz im Fall von Kinderwunsch oder Schwangerschaft. Trotz eines gesetzlichen Anspruchs auf mindestens 98 Tage bezahlten Mutterschutz, kommt es immer wieder zu Kündigungsdrohungen gegenüber chinesischen Frauen mit Kinderwunsch oder zu Kündigungen von Schwangeren (Human Rights Watch, 2021). Infolgedessen nehmen Chinesinnen zunehmend von der Gründung einer Familie Abstand. Die Zahl der sogenannten „double income, no kids“-Familien lag zuletzt bei 188 Millionen und wird in den kommenden Jahren vermutlich weiter steigen (Ning, 2023).

Die Kosten für die Erziehung eines Kinds bis zum 18. Lebensjahr beliefen sich in China im Jahr 2019 durchschnittlich auf 76.556 US-Dollar und damit auf rund das Siebenfache des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf – diese Relation ist fast doppelt so hoch wie in Deutschland (Hui, 2022). Bereits die Geburt eines Kinds kann in China teuer werden (Reuters, 2021): Zwar sind Geburten in staatlichen Krankenhäusern größtenteils von der Krankenversicherung gedeckt, doch aufgrund geringer Kapazitäten wenden sich viele Chinesinnen an private Kliniken, in welchen eine Geburt mehr als 15.000 US-Dollar kosten kann. Hohe Mieten für größere Wohnungen in den beliebten Stadtteilen der Metropolen belasten chinesische Familien zusätzlich. Ein weiterer Kostenfaktor sind die hohen Ausbildungskosten. Auf chinesischen Einzelkindern ruhen hohe Erwartungen, weshalb Familien sich oft gezwungen sehen, in teure private Bildungsangebote zu investieren (Reuters, 2021). Versuche der chinesischen Regierung, private Bildungsangebote zu regulieren, um Familien zu entlasten, zeigten bisher wenig Erfolg (Bloomberg, 2023). Die hohen Erziehungskosten stellen für viele chinesische Paare eine große Hürde für die Familiengründung dar. Einige chinesische Regionen haben daher damit begonnen, Paaren finanzielle Anreize in Form von Einmalzahlungen oder Mieterleichterungen für ein zweites oder drittes Kind anzubieten (Qiongfang, 2023).

Folgen für Wirtschafts- und Sozialmodell

Die Nachwehen der Ein-Kind-Politik werden in China in Zukunft zunehmend spürbar sein und werden auch das bisherige Wirtschafts- und Sozialmodell vor große Herausforderungen stellen. In den kommenden Jahrzehnten wird die chinesische Bevölkerung weiter altern und schrumpfen. Vor allem die Zahl der Chinesinnen und Chinesen im erwerbsfähigen Alter wird bis 2050 um schätzungsweise ein Viertel sinken (O'Hanlon, 2023). Eine entscheidende Säule des chinesischen Wirtschafts- und Wachstumsmodells – der lange starke Zuwachs an günstiger Arbeitskraft – gerät damit ins Wanken. Es droht sogar ein Fachkräfteengpass. Erschwerend hinzu kommt, dass China bisher kaum Zuwanderung ausländischer qualifizierter Arbeitskräfte aufweisen kann. Nur etwa 0,1 Prozent der in China lebenden Personen kam im Jahr 2020 aus dem Ausland (Speelman und Haugen, 2022). In Deutschland lag dieser Anteil zuletzt bei knapp 15 Prozent (Statistisches Bundesamt, 2024).

Die alternde Bevölkerung erhöht auch den Druck auf die Sozialsysteme. Das bisherige Renteneintrittsalter liegt in China mit 60 Jahren für Männer und 50 oder 55 Jahren je nach beruflicher Tätigkeit für Frauen im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich niedrig (OECD, 2022). Im Jahr 2040 werden rund 28 Prozent der chinesischen Bevölkerung älter als 60 Jahre sein. Um das Rentenniveau aufrechtzuerhalten, müssen Erwerbstätige zukünftig höhere Beitrage an die Rentenversicherung zahlen oder es müssen Leistungen gekürzt werden. Letzteres führte Ende 2023 zu öffentlichen Protesten von Rentnern (Bradsher et al., 2023).

Das Zusammenspiel aus zukünftig weniger Erwerbstätigen, die möglicherweise höhere Sozialabgaben leisten müssen, sowie einer hohen Zahl an Ruheständlern mit niedrigen Renten könnte darüber hinaus eine weitere Säule der chinesischen Wirtschaft schwächen – den privaten Konsum. Denn der Bedarf für Altersvorsorgesparen ist entsprechend hoch.

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