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Axel Plünnecke in der Kölnischen Rundschau Interview 29. Februar 2024

„Zahl der Zuwanderer ist erfreulicherweise gestiegen”

In Deutschland fehlen Facharbeiter. Die Lücke schließen könnten qualifizierte Zuwanderer aus Drittstaaten mit hohen Geburtenraten, sagt IW-Migrationsexperte Axel Plünnecke im Interview mit der Kölnischen Rundschau. Um die müsse sich Deutschland aber noch stärker bemühen. Aber auch Menschen, die vor Kriegen geflüchtet sind, könnten am Arbeitsmarkt aktiv werden.

Herr Plünnecke, Kommunalpolitiker stöhnen über eine hohe Zahl an Migranten. Haben wir da ein Problem?

Im letzten und vorletzten Jahr hatten wir eine sehr hohe Migration aus der Ukraine. Aber auch aus anderen Ländern sind Menschen zu uns gekommen, die vor Kriegen flüchten. Die nehmen wir aus humanitären Gründen auf. Natürlich bedeutet das vor Ort, dass diese Menschen Wohnraum brauchen oder Lehrkräfte für die Kinder. Das sind die Herausforderungen, die gerade die Kommunen spüren. Aber davon trennen möchte ich die Zuwanderung aus der EU oder die qualifizierte Zuwanderung aus Drittstaaten. Auf niedrigerem Niveau, aber für deutsche Verhältnisse durchaus erfreulich gestiegen, war auch die Zuwanderung von Hochschulabsolventen aus Drittstaaten wie Indien, die als Ingenieurinnen und Ingenieure oder Informatiker zu uns kamen, und uns helfen, die Fachkräftelücke zu schließen.

Was ist der entscheidende Unterschied zwischen diesen Gruppen?

Menschen, die zu uns flüchten, haben oft unterbrochene Bildungsbiografien, bringen manchmal keine Schul- oder Berufsabschlüsse mit. Sie kehren vielleicht auch in ihre Heimatländer zurück, wenn sich die Lage dort bessert. Sie kommen zu uns, weil sie unsere Hilfe brauchen. Qualifizierte Zuwanderer kommen nach Deutschland, wenn es hier wirtschaftlich attraktiv ist. Die qualifizierte Zuwanderung hilft Deutschland aus ökonomischer Sicht. Deutschland braucht diese Zuwanderung perspektivisch noch stärker angesichts der demografischen Herausforderung in den kommenden zehn Jahren. Große gut qualifizierte Jahrgänge gehen in Rente und kleinere Jahrgänge rücken nach. Und diese kleineren Jahrgänge weisen - wie wir bei Pisa-Studien sehen - größere Lücken in Mathematik oder in der Lesekompetenz auf.

Woher kommen die qualifizierten Zuwanderer in der Zukunft?

Vorzugsweise aus demografiestarken Drittstaaten mit hohen Geburtenraten. Die Staaten Mittelosteuropas, aus denen die Menschen vor zehn bis zwanzig Jahren zu uns kamen, haben inzwischen selbst demographische Probleme. Eine Zuwanderung aus diesen Regionen würde Engpässe dort weiter verschärfen und ist nur eingeschränkt möglich und sinnvoll. Etwa jeder fünfte 15- bis 24- Jährige auf der Welt ist eine Inderin oder ein Inder. Das sind über 200 Millionen Menschen. Könnten wir nur einen kleinen Bruchteil dieser Menschen dazu bewegen, nach Deutschland zu kommen, würde das helfen, den Bedarf an Zuwanderung in den kommenden zehn Jahren zu decken. Angesichts der hohen Geburtenzahlen hat Indien selbst ein Interesse daran, dass ein Teil der Menschen im Ausland arbeitet. Viele der Zuwanderer aus Indien haben einen Hochschulabschluss, viele arbeiten als Ingenieure, Informatikerinnen oder in anderen den technischen Bereichen. Interessant mit Blick auf eine mögliche Zuwanderung sind auch andere demografiestarke Regionen wie Lateinamerika oder Nordafrika, etwa Ägypten.

Wie viel Zuwanderung brauchen wir in den kommenden fünf oder zehn Jahren?

Verschiedene Wissenschaftler stellen heraus, dass wir pro Jahr eine Nettozuwanderung von etwa 400.000 bis 500.000 Menschen pro Jahr brauchen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz schafft bessere Regeln, um den Zuzug qualifizierter Personen zu erleichtern. Wir haben aber noch hemmende Engpässe bei Verfahren und zu wenig Personal in Botschaften und Ausländerbehörden. Es dauert zu lange, bis potenzielle Zuwanderer Termine bekommen, die Botschaften Anträge bearbeiten, alle zuständigen Behörden zustimmen. Wenn eine IT-Kraft aus Mexiko oder Indien nach Deutschland möchte, kann das das Verfahren mehrere Monate dauern. Da geht die Person vielleicht in ein Land, in dem man schneller arbeiten kann. Dazu haben Länder wie Australien, Kanada oder die USA weitere Vorteile. Dort gibt es weniger Sprachprobleme als mit Deutsch, das seltener gelernt wird. Deshalb müssen wir noch besser sein in unseren Prozessen, digitaler und schneller.

Wie viele von diesen qualifizierten Zuwanderer kommen denn pro Jahr nach Deutschland?

Über verschiedene Zuwanderungswege kamen im Jahr 2022 ohne Flucht allein netto rund 100.000 Menschen aus Asien. Besonders in den akademischen MINT-Berufen, das sind vor allem Ingenieur- oder Informatikerberufe, gibt es erste Erfolge. So waren Ende 2012 in Deutschland 30.000 Personen aus Drittstaaten in akademischen MINT-Berufen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Heute sind es in diesen Berufen mehr als 130.000 Menschen. Und je mehr Zuwanderer hier arbeiten, umso größer werden die Netzwerkeffekte. Viel Zuwanderung findet dadurch statt, dass hier beschäftigte Menschen Bekannte, Verwandte und Freunde im Herkunftsland haben, die sich auch ins Ausland orientieren wollen. Sie haben dann eine Anlaufstelle in Deutschland, vielleicht sogar einen Bürgen, der sicherstellt, dass die Lebenshaltungskosten des Zuwanderers zunächst gedeckt werden und bei dem sie wohnen können. Dies ist für die neue Chancen-Karte sehr interessant, mit der man auch ohne bestehendes Job-Angebot zuwandern kann. Bei der indischen Community ist eine kritische Größe geschafft. Wir hatten vor zehn Jahren 3.750 Inderinnen und Inder, die hier in akademischen MINT-Berufen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Heute sind es über 30.000. Aktuell kommen in einem halben Jahr etwa so viele Inderinnen und Inder in diesen Berufen dazu, wie im Jahr 2012 insgesamt beschäftigt waren.

Wir haben viel über Hochqualifizierte gesprochen. Wie ist generell die Qualifikation der Zuwanderer?

Sehr unterschiedlich. Wir haben sehr hoch qualifizierte Zuwanderer. Die verdienen auch entsprechend gut. Ein Vollzeitbeschäftigter Deutscher hat im Median Ende 2022 ungefähr 3.800 Euro im Monat verdient. Der mittlere Verdienst eines Ausländers in Vollzeit lag bei 2.900 Euro, der Medianlohn der Inder bei über 5.200 Euro. Indische Zuwanderer sind zu einem hohen Anteil Akademiker, bei Rumänen arbeiten viele in Helfertätigkeiten und das durchschnittliche Qualifikationsniveau ist niedriger. Weniger vertreten sind weltweit die mittlere Qualifikation, also die hochwertige duale Berufsausbildung in Deutschland. Eine derartige Ausbildung gibt es in den meisten Herkunftsländern nicht. Viele Zuwanderer fangen aber auch in Helferberufen an und arbeiten sich dann über Berufserfahrung und Weiterbildung im Beruf hoch. Auch diese Personen sind wichtig, um einen Arbeitskräftemangel in Deutschland zu verhindern. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Deutschen in Helferberufen ist von 2012 bis 2023 mit 3,8 Millionen konstant geblieben. Die Zahl der Ausländer in Helferberufen ist in der Zeit von 0,7 auf knapp zwei Millionen gestiegen. Es geht hier etwa um die Branchen Logistik oder Gastronomie. Helfertätigkeiten haben oft Rumänen, Polen, Bulgaren, aber auch Syrer und Ukrainer ausgeübt. Auch wenn Fluchtmigration vor allem aus humanitärer Sicht bewertet werden sollte, können Menschen nach einer ersten Hilfsphase auch am Arbeitsmarkt aktiv werden. Für die Menschen bedeutet das ein Stück Teilhabe.

Wir müssen im Zweifel also auch bei Geflüchteten investieren?

Genau. Investitionen in Sprachkurse und Bildung sind wichtig, um diese Potenziale von den Menschen, die hier sind, zu heben. Bleiben die Menschen dann in Deutschland, weil in den Herkunftsländern die Lage schwierig bleibt, dann haben wir etwas für die Fachkräftesicherung getan. Gehen die Personen nach Ende eines Krieges wieder zurück, ist das ein Beitrag zur Entwicklungshilfe.

Werden gering qualifizierte Deutsche von Ausländern verdrängt?

Nein. Wir haben in den letzten zehn Jahren eine gute Beschäftigungsentwicklung gehabt. Und auch in den nächsten zehn Jahren sind die Berufsperspektiven für Deutsche schon aufgrund der demografischen Entwicklung gut. Es ist eher so, dass wir beispielsweise in den technischen Berufen ohne Zuwanderung in den nächsten zehn Jahren einen starken Rückgang an Beschäftigung hätten. Damit die Unternehmen hier weiter genug qualifizierte Leute finden, brauchen wir auch auf jeden Fall qualifizierte Zuwanderung. Wir haben demografiebedingt auch Engpässe bei den regionalen Dienstleistungen vor Ort, bei der Pflege, im Handwerk und wir brauchen Leute, die den Bus fahren können, die Straßenbahn oder den LKW oder die im Restaurant bedienen können.

Übt Zuwanderung Druck auf die Löhne von Helfertätigkeiten aus?

Die Durchschnittslöhne bei den Helfertätigkeiten sind in den letzten Jahren gestiegen, was nur zu einem Teil an Mindestlohnregelungen liegt. Der Arbeitsmarkt ist in diesem Bereich besser geworden und müsste demografisch bedingt auch die nächsten zehn Jahre gut bleiben. Ich würde nicht vermuten, dass es da einen Lohndruck nach unten gibt.

Wie ist denn die ökonomische Gesamtbilanz der Migration?

Wenn ich anderen Menschen, die Hilfe brauchen – wie Geflüchteten – helfen will, kann ich nicht erwarten, dass sich das fiskalisch rechnet. Diese Zuwanderung ist aus humanitärer Sicht zu bewerten. Es rechnet sich aber trotzdem, in die Bildung und Integration zu investieren, weil es Teilhabechancen verbessert und die Geflüchteten dann ein Stück ihrer Kosten mittragen können, wenn ein Teil dieser Menschen erwerbstätig wird und Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt. Qualifizierte Zuwanderung über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und Zuwanderung über die Hochschulen ist hingegen ökonomisch motiviert und fiskalisch hoch attraktiv. Weil wir in den letzten zehn Jahren viele Personen aus humanitärer Sicht aufgenommen haben, dürfte sich die Zuwanderung insgesamt fiskalisch nicht gerechnet haben. Nach ökonomischen Kriterien sollte man allerdings nur die ökonomisch motivierte qualifizierte Zuwanderung bewerten – und da ist das Bild klar positiv.

Gibt es Überblicke darüber, wie die Zuwanderer integriert sind oder wie lange es dauert, bis sie integriert sind?

Es kommt wieder darauf an, über welche Gruppe wir hier reden. Entscheidend ist auch, ob es schon Communities vor Ort gibt, die bei der Integration helfen können. Wie sind die Sprachfähigkeiten der Personen? Wie schnell können diese in Berufen die Sprachfähigkeiten erwerben? In welchen Branchen arbeiten Sie? In den IT-Branchen, wo auch sehr häufig Englisch gesprochen wird und Belegschaften sehr international sind, gelingt Integration natürlich schneller. Bei SAP etwa stammt jede zweite Patentanmeldung von Erfindern mit Migrationsgeschichte. Wer in internationalen Teams unterwegs ist, fühlt sich wahrscheinlich sehr schnell heimisch. Es gibt auch Regionen mit großen internationalen Communities, etwa rund um München, Frankfurt oder im Rheinland. Daneben haben wir die ländlichen Regionen, wo es diese Communities nicht gibt. Hier ist die Herausforderung größer. Das gilt auch für die ostdeutschen Bundesländer. Hochschulen können hier aber ausländische Studierende anziehen, die vor Ort leben und später zu einem Teil bleiben. Wir hatten im Wintersemester 2010 ungefähr ja knapp 5.000 indische Studierende in Deutschland. Im Wintersemester 2022 waren es über 42.000.

Unterm Strich. Ist Deutschland ein attraktives Land für Zuwanderer?

Es ist durch bessere Regeln deutlich attraktiver geworden. Deutschland kann aber noch besser werden. Es sollte wichtige Institutionen wie den Deutschen Akademischen Austauschdienst oder die Goethe-Institute weiter stärken. Damit werden mehr internationale Studierende gewonnen und mehr Personen lernen schon im Ausland Deutsch. Wir können uns mehr bemühen, dass die Leute sich hier wohlfühlen, persönliche Netzwerke aufbauen und dann auch mit der etwas höheren Wahrscheinlichkeit bleiben. Im Moment bleibt so ungefähr jeder dritte Absolvent aus Drittstaaten nach dem Studium in Deutschland. Das ist gar nicht so schlecht, aber man könnte sicher auch jeden zweiten für eine Zukunft in Deutschland gewinnen.

Zum Interview auf rundschau-online.de

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