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Gewerkschaften im internationalen Vergleich (IV) Gewerkschaftsspiegel Nr. 4 29. November 2011 Niederlande

Die niederländischen Gewerkschaften sind für ihre moderaten Forderungen und den ausgeprägten Sozialdialog mit den Arbeitgebern bekannt. Diese Zurückhaltung bestand jedoch nicht seit jeher. Aufgrund der jahrelang hohen Arbeitslosigkeit zwang die Regierung die Sozialpartner Anfang der 1980er Jahre unter Androhung der gesetzlichen Festlegung der Löhne an den Tisch. Resultat war das Abkommen von Wassenaar von 1982, das noch immer als Grundstein des Beschäftigungswunders der Niederlande in den 1990er Jahren gilt und als sogenanntes Poldermodell die konstruktiven Verhandlungen international bekannt machte.

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Gewerkschaften im internationalen Vergleich (IV) Gewerkschaftsspiegel Nr. 4 29. November 2011

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Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die niederländischen Gewerkschaften sind für ihre moderaten Forderungen und den ausgeprägten Sozialdialog mit den Arbeitgebern bekannt. Diese Zurückhaltung bestand jedoch nicht seit jeher. Aufgrund der jahrelang hohen Arbeitslosigkeit zwang die Regierung die Sozialpartner Anfang der 1980er Jahre unter Androhung der gesetzlichen Festlegung der Löhne an den Tisch. Resultat war das Abkommen von Wassenaar von 1982, das noch immer als Grundstein des Beschäftigungswunders der Niederlande in den 1990er Jahren gilt und als sogenanntes Poldermodell die konstruktiven Verhandlungen international bekannt machte.

In den Niederlanden gibt es drei große gewerkschaftliche Dachverbände, die insgesamt 1,9 Millionen Mitglieder organisieren. Die größte Gewerkschaft, die Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV), repräsentiert rund 1,4 Millionen Mitglieder, der Christelijk Nationaal Vakverbond (CNV) vereint rund 350.000 Mitglieder und der kleinste Dachverband, die Vakcentrale Voor Middengroepen en Hoger Personeelder (MHP), umfasst 160.000 Mitglieder. In der FNV und dem CNV sind alle Berufsgruppen vertreten. Als sog. Richtungsgewerkschaften unterscheiden sie sich durch ihre ideologische Ausrichtung: Die FNV ist linksdemokratisch und vertritt auch ausdrücklich die Interessen von Sozialtransferempfängern, der CNV ist christdemokratisch orientiert. Die Beziehung zwischen den beiden größeren Dachverbänden gilt als gut. Die MHP repräsentiert Angestellte und Akademiker.

Tarifverhandlungen werden hauptsächlich auf Branchenebene geführt, in großen Unternehmen gibt es aber auch zunehmend mehr Firmentarifverträge. Anders als in Deutschland gibt es in den Niederlanden nahezu keine Mindestanforderungen zur Tariffähigkeit – die Gewerkschaften müssen lediglich eine Rechtspersönlichkeit besitzen und ihrer Satzung nach zu Verhandlungen befugt sein. Obwohl der Organisationsgrad der Arbeitnehmer in den Niederlanden im Jahr 2008 bei gerade einmal 18,9 Prozent lag, sind zwischen 85 und 90 Prozent der Arbeitsverhältnisse in den Niederlanden tarifvertraglich geregelt. Dies liegt unter anderem daran, dass viele Arbeitgeber organisiert sind und die gleichen Bedingungen für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer wie auch für nicht organisierte Arbeitnehmer sicherstellen. Zudem kann ein Tarifvertrag auf Anfrage der Sozialpartner als allgemeinverbindlich für die gesamte Branche erklärt werden, wenn er für eine hinreichend große Zahl der Arbeitnehmer (in der Regel mindestens 60 Prozent) direkt gültig ist. Diese Regelung trägt zu einer Steigerung des Deckungsgrades von Tarifverträgen um geschätzte 7 bis 8 Prozentpunkte bei.

Gewerkschaften und Arbeitgeber orientieren sich in den Tarifverhandlungen an generellen Empfehlungen, die in den traditionellen Herbsttagungen tripartistisch von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Aussichten erarbeitet werden. Hierfür tritt die Stichting van de Arbeid (Arbeitsstiftung), ein bipartistisches ständiges Verhandlungsorgan von Gewerkschaften und Arbeitgebern, mit der Regierung in Verhandlungen. In diesem Rahmen entstanden in der Vergangenheit mehrere Sozialpakte auf zentraler Ebene: 1982 das Abkommen von Wassenaar, 1993 „Ein neuer Kurs“, 1997 „Agenda 2002“ und im Jahr 2002 eine gemeinsame Erklärung zu den Tarifverhandlungen für 2003.

Die ständigen Beratungsgremien und die Sozialpakte führen dazu, dass die industriellen Beziehungen in den Niederlanden als besonders effektiv gelten. Auch der gesetzliche Mindestlohn wurde im Konsens von Gewerkschaften und Arbeitgebern 1968 eingeführt. Er wird zweimal jährlich der wirtschaftlichen Entwicklung und dem durchschnittlichen Anstieg der Tariflöhne angepasst.

Auf der politischen Bühne üben die Gewerkschaften ihren Einfluss im Rahmen des Sozial-ökonomischen Rates (SER) aus. Dieser setzt sich paritätisch aus Gewerkschafts-, Arbeitgeber- und Regierungsvertretern zusammen und berät Regierung und Parlament in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Auch hier zeigt sich wieder der starke Konsensgedanke: 80 Prozent der Empfehlungen des SER erfolgen unter Zustimmung aller Parteien und werden häufig direkt in die Gesetzgebung übernommen. Daher wird das Recht auf politische Streiks auch selten von den niederländischen Gewerkschaften wahrgenommen – der letzte Generalstreik liegt mehr als 6 Jahre zurück. Im Juni 2005 wurde gegen Sozialreformen (vor allem gegen die Gesundheits- und Rentenreform) gestreikt.

Die betriebliche Interessenvertretung übernimmt in den Niederlanden der Betriebsrat (Ondernemingsraad). Er vertritt nicht nur die Interessen der Arbeitnehmer, sondern auch die Interessen des Betriebs. Der Betriebsrat ist grundsätzlich unabhängig von den Gewerkschaften. Dennoch sind rund 65 Prozent der Betriebsratsmitglieder auch Mitglied einer Gewerkschaft. Dies liegt daran, dass die Kandidaten für die Betriebsratswahlen meistens von den Gewerkschaften aufgestellt werden.

Der Betriebsrat nimmt Mitbestimmungs-, Konsultations- und Informationsaufgaben in vielen Personalfragen wahr, wie zum Beispiel bei der Arbeitszeit, bei Urlaubsregelungen oder bei Trainingsmaßnahmen. Geht es um Wirtschafts- und Sozialfragen, hat der Betriebsrat ein Recht auf Unterrichtung und Anhörung und kann bei Wirtschaftsfragen, beispielsweise bei Übernahmen oder Investitionen, einen einmonatigen Aufschub erzwingen. An den Lohnverhandlungen nehmen Betriebsräte in der Regel nicht teil.

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