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Michael Grömling / Jürgen Matthes IW-Kurzbericht Nr. 9 31. Januar 2020 Industriekrise ist lang und tief

Abgesehen von der Schwächephase nach 1992 ist die aktuelle Industriekrise die längste in Deutschland. Nur die Krisen nach der Wiedervereinigung und im Zuge der globalen Finanzmarktkrise 2008/2009 waren tiefer. Dass es trotzdem noch nicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Rezession kam, liegt vor allem daran, dass die Industriebeschäftigung anders als früher noch recht stabil blieb. Falls sich die Anzeichen für eine Bodenbildung in der Industrie bestätigen sollten, kommt auch die Gesamtwirtschaft mit einem blauen Auge davon.

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Industriekrise ist lang und tief
Michael Grömling / Jürgen Matthes IW-Kurzbericht Nr. 9 31. Januar 2020

Industriekrise ist lang und tief

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Abgesehen von der Schwächephase nach 1992 ist die aktuelle Industriekrise die längste in Deutschland. Nur die Krisen nach der Wiedervereinigung und im Zuge der globalen Finanzmarktkrise 2008/2009 waren tiefer. Dass es trotzdem noch nicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Rezession kam, liegt vor allem daran, dass die Industriebeschäftigung anders als früher noch recht stabil blieb. Falls sich die Anzeichen für eine Bodenbildung in der Industrie bestätigen sollten, kommt auch die Gesamtwirtschaft mit einem blauen Auge davon.

Lange und tiefe Industriekrise

Die Industrie befindet sich derzeit in der längsten Krise seit 1993. Die Industrieproduktion im Verarbeitenden Gewerbe sinkt im Trend seit Mai 2018. Im Durchschnitt der Monate Oktober und November 2019 lag die Industrieproduktion um 7,2 Prozent unter dem Volumen vom ersten Halbjahr 2018. Im Bereich der Investitionsgüterhersteller beläuft sich das Minus gleichzeitig auf 8,7 Prozent; bei der Herstellung von Kraftfahrzeugen sogar auf 19 Prozent. Zwar ist der bisherige Rückgang der Industrieproduktion saison- und kalenderbereinigt deutlich geringer als im Zeitraum August 2008 bis April 2009 in Höhe von gut 23 Prozent und zwischen Anfang 1992 und Mitte 1993 von fast 16 Prozent. Doch hält die aktuelle Industrierezession schon länger an als während der globalen Finanzmarktkrise von 2008/2009. In gesamtdeutscher Rechnung war bislang nur die Industriekrise nach der Wiedervereinigung ähnlich lang, alle anderen deutlichen Schwächephasen waren wesentlich kürzer.

Auch die reale Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe (gemäß Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung – VGR) war im Jahr 2019 mit –3,6 Prozent stark rückläufig. Mit Ausnahme des Jahres 2009 ist dies auf Jahresbasis der stärkste Einbruch seit 1991. Als Folge der Industriekrise ging auch der Industrieanteil an der nominalen Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche im Jahr 2019 auf nur noch 21,6 Prozent zurück. Dies markiert mit Ausnahme des Jahres 2009 (19,7 Prozent) den niedrigsten Anteil in Deutschland seit 1991. Noch im Jahr 2016 lag der Industrieanteil jenseits von 23 Prozent, was im internationalen Vergleich einen Spitzenwert ausmacht. Selbst bei der Industriebeschäftigung zeigen sich erste Warnsignale. Sie war im Oktober 2019 erstmals seit 2010 rückläufig (in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten). Im Jahresdurchschnitt 2019 lag die Industriebeschäftigung allerdings mit knapp 7,8 Millionen noch um 0,6 Prozent über dem Vorjahreswert und vor allem um 630.000 Personen über dem Niveau von 2010 (auf Basis der VGR).

Es scheinen sich konjunkturelle und vorübergehende mit strukturellen und dauerhaften Ursachen zu vermischen (IW-Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur, 2019):

  • So bekommt die deutsche Industrie aufgrund ihrer hohen Weltmarktorientierung die sich abkühlende Weltkonjunktur unmittelbar zu spüren. Geopolitische Verunsicherungen und Handelskonflikte belasten den Welthandel und besonders die Investi­tionsneigung rund um den Globus. Hier stellt sich die Frage, ob und wann es wieder zu einer deutlichen und dauerhaften Entspannung kommt (Grömling/Matthes, 2019).
  • Des Weiteren finden vor allem im Automobilbereich ausgeprägte Produktionsanpassungen statt, die ebenfalls teils temporär und teils längerfristiger Natur sind. Im zweiten Halbjahr 2018 setzten Verzögerungen bei einem neuen weltweiten Genehmigungsstandard (WLTP) der Branche vorübergehend zu. Nunmehr machen sich neben dem Protektionismus auch strukturelle Anpassungen bemerkbar, sei es durch neue Technologien infolge der Digitalisierung oder der Frage nach neuen Antriebstechniken. Die Klimadebatte verstärkt den strukturellen Anpassungsdruck.

Bleibt die Binnenwirtschaft immun?

Trotz der Tiefe und Länge der Industriekrise blieb eine gesamtwirtschaftliche Rezession bislang aus. Denn die Binnenwirtschaft lief recht stabil weiter und konnte die Industrieschwäche kompensieren. Der Private Verbrauch blieb aufgrund der stabilen Arbeitsmarktentwicklung relativ robust und das Konsumklima bewegte sich trotz leichter Rückgänge weiter auf hohem Niveau. Im Baugewerbe legte die reale Wertschöpfung im Jahr 2019 um 4 Prozent zu und stabilisierte damit die gesamtwirtschaftliche Produktion. Auch bei den Dienstleistern war über alle Bereiche hinweg im Jahr 2019 ein positives Wachstum der realen Wertschöpfung zu verzeichnen.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Binnenwirtschaft nicht irgendwann angesteckt wird, wenn die Industriekrise weiter anhält. Erste Anzeichen dafür scheinen allmählich erkennbar zu werden. So wuchs die reale Wertschöpfung der industrienahen Unternehmensdienstleister im Jahr 2019 nur noch mit 0,6 Prozent und damit deutlich schwächer als 2018 mit 2,2 Prozent. In saisonbereinigter Betrachtung war in diesem Bereich die reale Wertschöpfung im Jahresverlauf 2019 sogar rückläufig. Dies macht deutlich, dass die übrige Wirtschaft nicht grundsätzlich immun gegenüber der Industriekrise ist.

Eine entscheidende Determinante für die weitere gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist die Arbeitsmarktperformance. Der Rückgang der Industriebeschäftigung im Herbst ist hier ein erstes Warnzeichen. Wenn sich der Arbeitsplatzabbau in der Industrie beschleunigen und fortsetzen sollte und falls es zu einem spiegelbildlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit käme, dürften über kurz oder lang auch der Private Konsum und wichtige konsumnahe Dienstleistungsbereiche in Mitleidenschaft gezogen werden.

Es ist zwar bemerkenswert, dass die Beschäftigung im Verarbeitenden Gewerbe trotz der Länge und Tiefe der Krise so lange recht stabil blieb. Eine Ursache hierfür könnte darin liegen, dass angesichts des verbreiteten Fachkräftemangels viele Betriebe ihre gut ausgebildeten Arbeitnehmer so lange wie möglich halten wollen. Doch reagieren die Industriefirmen bereits mit einer Reduktion von Gutschriften auf Arbeitszeitkonten und einem Abbau von Zeitarbeit. Zudem nimmt die Nutzung von Kurzarbeit zu. Wenn die Industriekrise noch tiefer wird oder deutlich länger andauert, dürften diese Puffer nicht mehr ausreichen. Dann wäre mit einem Beschäftigungsabbau im Verarbeitenden Gewerbe zu rechnen.

Anzeichen für Stabilisierung der Industrie

Zudem mehren sich die Anzeichen dafür, dass es in der Industrie bald zu einer Bodenbildung kommt und der Rückgang der Industrieproduktion nicht anhält:

  • Dies gilt für die Wirtschaftsstimmung als konjunktureller Frühindikator. So war der ifo-Geschäftsklimaindex für die Gesamtwirtschaft vor seinem leichten Rückgang im Januar zuletzt viermal hintereinander gestiegen oder zumindest nicht gefallen. Auch beim ifo-Geschäftsklima im Verarbeitenden Gewerbe (Salden) haben sich die Erwartungen zuletzt etwas aufgehellt und auch bei der Geschäftslage deutet sich eine Bodenbildung an. Der Einkaufsmanagerindex für die Industrie liegt zwar noch deutlich unter der Expansionsschwelle von 50. In den letzten Monaten hat sich hier aber eine Bodenbildung abgezeichnet.
  • Auch die Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe waren in den letzten Monaten kaum noch rückläufig. Im November 2019 waren sie nach zwischenzeitlichem Anstieg in etwa so hoch wie im August 2019. Der Auftragsbestand befindet sich trotz eines leichten Rückgangs weiter auf hohem Niveau.
  • Bei den Warenexporten zeigt sich in saisonbereinigter Rechnung zuletzt eine leichte Aufwärtstendenz. Ebenso haben sich die ifo-Exporterwartungen verbessert: von –5,5 im September 2019 auf 2,6 im Dezember 2019. Gegenüber dem Höchststand seit Erfassungsbeginn 2014 von 23,7 im Juli 2017 ist das Niveau aber noch gering.

Eine wichtige Ursache für die leicht verbesserten Aussichten in der Industrie dürfte darin liegen, dass die geopolitischen Störfeuer und die damit verbundene wirtschaftspolitische Verunsicherung zuletzt etwas an Brisanz verloren haben. Zwar kam es zu einem Auf­flammen im Nahen Osten, doch konnte eine Eskalation vermieden werden. Zentral ist jedoch für die deutsche Industrie, dass die Sorge vor einem ungeregelten Brexit zumindest derzeit nicht mehr besteht und dass eine weitere Eskalation des Handelskonflikts zwischen den USA und China im Zuge des Phase-1-Deals vermieden werden konnte.

Auch die IW-Verbandsumfrage vom Jahresende 2019 signalisiert für das Jahr 2020 eine zaghafte Zuversicht (Grömling, 2019). Bei den Produktionserwartungen dominieren mit Blick auf das Jahr 2020 die zuversichtlichen Verbände die eher pessimistischen Unternehmensvertreter: 19 der befragten 48 Verbände gehen davon aus, dass es in diesem Jahr in ihrem Bereich zu einer etwas höheren Wirtschaftsleistung kommt. Dagegen melden nur zwölf Verbände für ihre Mitgliedsfirmen eine etwas niedrigere Produktion im Vergleich zu 2019. In der Industrie besteht ein gemischtes Bild: In den Bereichen Luft-/Raumfahrzeuge und Schiffe/Meerestechnik sind etwas höhere Produktionstätigkeiten zu erwarten. Das gilt auch für die Stahl-, Eisen- und Nicht-Eisen-Metall­industrie. In der Automobil-, Elektro- und Chemieindus­trie dürfte sich der Rückgang zumindest nicht fortsetzen. Dagegen werden im Maschinenbau und der Stahl- und Metallverarbeitung Produktionsrückgänge erwartet.

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