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Henry Goecke / Christian Rusche IW-Kurzbericht Nr. 90 24. August 2020 Mehrwertsteuersenkung: Erste Effekte sichtbar

Der Beschluss der Großen Koalition zur vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung ab Juli 2020 hat viele überrascht. Angedacht zur Erhöhung der Konsumnachfrage in der Corona-Pandemie überwog jedoch die Skepsis, ob diese Erwartung sich überhaupt erfüllen würde. Doch die Senkung hat Schätzungen zufolge tatsächlich einen sichtbaren Effekt.

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Erste Effekte sichtbar
Henry Goecke / Christian Rusche IW-Kurzbericht Nr. 90 24. August 2020

Mehrwertsteuersenkung: Erste Effekte sichtbar

IW-Kurzbericht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Der Beschluss der Großen Koalition zur vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung ab Juli 2020 hat viele überrascht. Angedacht zur Erhöhung der Konsumnachfrage in der Corona-Pandemie überwog jedoch die Skepsis, ob diese Erwartung sich überhaupt erfüllen würde. Doch die Senkung hat Schätzungen zufolge tatsächlich einen sichtbaren Effekt.

Praktische und theoretische Überlegungen führten vor der Mehrwertsteuersenkung nahezu unisono zu der Einschätzung, dass dieser Impuls kaum Wirkung entfalten würde. So schätzte das ifo-Institut die damit verbundenen Steuerausfälle auf rund 20 Milliarden Euro, während lediglich positive Effekte von rund 6,5 Milliarden Euro auf die Wirtschaftsleistung erwartet wurden (Fuest, 2020). Die Mehrwertsteuersenkung würde demnach mehr kosten als nützen. Schätzungen in ähnlicher Größenordnung liegen auch für Großbritannien vor: Während der letzten Finanzkrise sorgte eine Umsatzsteuersenkung um 2,5 Prozentpunkte für 13 Monate lediglich für einen Anstieg der Konsumausgaben von 0,4 Prozent (ebenda). Auch die Unternehmen gingen überwiegend von der Wirkungslosigkeit der Maßnahme aus: In einer Umfrage für den Handelsverband Deutschland (HDE) erwarteten lediglich 13 Prozent der Händler jenseits des Lebensmittelhandels positive Effekte (HDE, 2020).

Hintergrund dieser negativen Erwartungen waren von Seiten der Unternehmen beispielsweise die Kosten der Umstellung, die geringe zusätzlich Wirkung bei Rabatten von beispielsweise 30 Prozent in einigen Branchen oder bereits gefüllte Auftragsbücher beispielsweise im Baugewerbe (z. B. Breinich-Schilly, 2020). Auch theoretisch spricht auf den ersten Blick wenig für die Wirksamkeit der Maßnahme. Einerseits ist unsicher, ob die Unternehmen die Steuersenkung auch tatsächlich weitergeben, weil die Marktgegebenheiten darüber entscheiden, wer die Steuer wirtschaftlich tragen muss. So hat die Mehrwertsteuersenkung im hart umkämpften Lebensmitteleinzelhandel einen größeren Effekt als beispielsweise bei den in Corona-Zeiten gefragten Onlinehändlern sowie bei Gaming- und Spiele-Anbietern (idealo, 2020). Andererseits beschrieb bereits der 1772 geborene Ökonom David Riccardo die sogenannte Ricardianische Äquivalenz: Verschuldet sich ein Staat, um die Steuern zu senken, so muss der Staat später die Steuern erhöhen, um die Schulden zurückzuzahlen. Die Bürger des Staates antizipieren dies, legen die Steuerersparnis zur Seite und zahlen mit dem gesparten Geld die späteren Steuern (Romer, 1996, 66).

Trotz all dieser Bedenken war jedoch ein Eingreifen des Staates zur Überwindung der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise wichtig. Was geschieht, wenn der Staat untätig bleibt, konnte in der Weltwirtschaftskrise von 1929 beobachtet werden (De Long, 1990). Ohne einen staatlichen Impuls weitete sich die Krise zur Großen Depression aus. Hintergrund ist eine sich selbst verstärkende Wirkung: Durch die ersten Anzeichen einer Krise werden Unternehmen und Verbraucher zurückhaltender, weil sie sinkende Auftragszahlen beziehungsweise Arbeitslosigkeit befürchten. Auch Kreditinstitute werden vorsichtiger, weil Kreditausfälle aufgrund von Arbeitslosigkeit und schlechter Geschäfte wahrscheinlicher werden. Dadurch fehlen Unternehmen Kredite sowie Aufträge und sie müssen Entlassungen tätigen. Dies wiederum vertieft die Krise weiter. Ein staatlicher Impuls ist in solch einer Situation notwendig, um die Auftragslage zu sichern und negative Erwartungen einzuhegen (Keynes, 1936), damit eine Depression vermieden werden kann. Das heißt, auch wenn durch die Mehrwertsteuersenkung kein zusätzlicher Konsum entsteht, weil Käufe von den Konsumenten vorgezogen werden (GfK, 2020), hilft der Impuls: Die Nachfrage in der akuten Krise wird stabilisiert und die Abwärtsspirale gestoppt.

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Tatsächlich scheint der Impuls zu wirken, was an der Anzahl der Passanten in deutschen Innenstädten deutlich wird (Abbildung). Die täglichen Daten zu den Fußgängern in Einkaufsstraßen werden von der Firma Hystreet an verschiedenen Standorten erfasst und können auf hystreet.com eingesehen werden. Diese Daten wurden verwendet, um die Wirkung der Mehrwertsteuersenkung in Deutschland auf die Konsumnachfrage abzuschätzen. In die Analyse gingen insgesamt 41 Straßenabschnitte in 21 deutschen Städten ein.

Im Juni 2019 wurden auf den betrachteten Straßenabschnitten insgesamt 30 Millionen Passanten verzeichnet, während es im Juli des Jahres 31 Millionen waren. Im Jahr 2020 wurden im Juni rund 23 Millionen Passanten gezählt. Die Differenz zum Vorjahr betrug, vor allem Corona-bedingt, somit rund sieben Millionen. Im Juli 2020 waren schon wieder 27,2 Millionen Besucher in den Innenstädten unterwegs. Die Werte haben sich somit bis auf 3,8 Millionen an die Vorjahreswerte angenähert. Die Differenz zum Vorjahr konnte folglich nahezu halbiert werden.

Doch die Frage bleibt, welchen Anteil an dieser Erholung hatte die Mehrwertsteuersenkung zum 1. Juli 2020 genau? Dieser Effekt wird mithilfe eines Fixed-Effects-Panelmodells geschätzt. Dieses Modell berücksichtigt diverse mögliche Einflussfaktoren. Hierzu gehören unter anderem allgemeine Informationen wie die Wochentage, Feiertage oder Ferien. Des Weiteren werden regional unterschiedliche Umstände wie die Anzahl der neu gemessenen Coronainfektionen oder die unterschiedlichen Lockdown-Maßnahmen mit Blick auf die Schließung von Geschäften berücksichtigt.

Die Schätzung ergibt, dass die Mehrwertsteuersenkung allein in den betrachteten 21 Städten für bis zu 1,7 Millionen zusätzliche Passanten in den Innenstädten gesorgt hat. Für ganz Deutschland dürfte diese Zahl folglich noch größer sein. Relativ betrachtet, war die Steuersenkung für mehr als 6 Prozent der Passanten in den beobachteten Straßenabschnitten im Juli verantwortlich. Oder anders formuliert: Rund 40 Prozent der Zunahme der Passanten zwischen Juni und Juli 2020 ging auf die Mehrwertsteuersenkung zurück.

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Einschränkend muss jedoch erwähnt werden, dass die Ankündigung der Mehrwertsteuersenkung im Juni auch bremsend gewirkt haben könnte, wenn Konsumenten aufgrund der Aussicht auf niedrigere Preise Anschaffungen in den Juli verschoben haben. Im Vergleich zu den 19,1 Millionen Passanten im Mai 2020 gab es im Juni 2020 dennoch eine deutliche Erholung der Passantenzahlen in den Einkaufsstraßen.

Zwar kann aus der Anzahl an Passanten nicht direkt auf den Einzelhandelsumsatz geschlossen werden. Auch der Effekt im Onlinehandel kann nicht abgelesen werden. Dennoch hat die Mehrwertsteuersenkung bereits sichtbare Effekte gezeitigt und damit einen Beitrag zur Überwindung der Krise im besonders betroffenen stationären Einzelhandel geleistet.

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