1. Home
  2. Studien
  3. Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft
Galina Kolev IW-Kurzbericht Nr. 23 21. März 2022 Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft

Deutschland ist stark von Energieimporten aus Russland abhängig. Zwar kommen nur 2,7 Prozent der gesamten deutschen Warenimporte aus Russland. Doch die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Lieferungen aus Russland ist wesentlich stärker als die reinen Zahlen suggerieren, da Deutschland von dort vornehmlich Rohstoffe importiert, die am Anfang der Wertschöpfungskette stehen.

PDF herunterladen
Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft
Galina Kolev IW-Kurzbericht Nr. 23 21. März 2022

Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Deutschland ist stark von Energieimporten aus Russland abhängig. Zwar kommen nur 2,7 Prozent der gesamten deutschen Warenimporte aus Russland. Doch die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Lieferungen aus Russland ist wesentlich stärker als die reinen Zahlen suggerieren, da Deutschland von dort vornehmlich Rohstoffe importiert, die am Anfang der Wertschöpfungskette stehen.

Lieferausfälle können somit mehrere Produktionsstufen hintereinander stilllegen. Besonders betroffen wären energie- und rohstoffintensive Branchen wie die Chemische Industrie, die Metallherstellung, aber auch die Automobilindustrie und der Maschinenbau. Insgesamt entfällt im Durchschnitt pro 100 Euro Endnachfrage in Deutschland 1 Euro auf russische Wertschöpfung.

Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Russland überschaubar. Unter den Exportzielländern Deutschlands belegt Russland den Rang 14 gemessen am Exportumsatz: Lediglich 1,9 Prozent der deutschen Exporte gingen im Jahr 2021 nach Russland. Auf der Importseite rangiert das Land mit einem Anteil an den gesamten deutschen Warenimporten von 2,7 Prozent immerhin auf Platz 12. Und auch was die internationale Investitionstätigkeit angeht, ist die gesamtwirtschaftliche Bedeutung Russlands gering. Lediglich 1,7 Prozent der deutschen Direktinvestitionsbestände im Ausland entfallen auf die russische Wirtschaft.

Doch die tatsächliche Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Importen aus Russland geht weit über das hinaus, was diese gesamtwirtschaftliche Betrachtung andeutet. Während Deutschland vornehmlich Maschinen, chemische Erzeugnisse und Autos nach Russland liefert, bestehen die deutschen Warenimporte aus Russland fast nur aus Rohstoffen und Erzeugnissen der chemischen und insbesondere der petrochemischen Industrie. Etwa zwei Drittel der Warenimporte entfallen auf Erdöl und Erdgas, rund ein Zehntel der Warenimporte sind Nichteisenmetalle. Gerade in diesen beiden Bereichen ist die Abhängigkeit Deutschlands von Russland recht hoch: 55 Prozent der Erdgasimporte für die deutsche Wirtschaft kommen aus Russland (BP, 2021), beim Erdöl ist es etwa ein Drittel. Drei Viertel der Importe von Isopren-Kautschuk – künstlich produzierter Kautschuk, der beispielsweise für die Herstellung von Autoreifen eingesetzt wird – kommen gemäß Daten des Statistischen Bundesamts ebenfalls aus Russland. Palladium – ein Edelmetall, das für die Herstellung von Autokatalysatoren verwendet wird, wird auch zu einem Viertel aus Russland importiert.

Während Erdöl relativ unproblematisch aus anderen Ländern, zum Beispiel aus dem Nahen und Mittleren Osten, importiert werden kann, ist es beim Erdgas aufgrund fehlender Infrastruktur kaum möglich, einen schnellen Ersatz zu finden, wie die aktuelle Debatte um einen möglichen Lieferstopp belegt.

Inhaltselement mit der ID 10665
Inhaltselement mit der ID 10666
Inhaltselement mit der ID 10668

Die Verknappung des Gasangebots für den deutschen Markt und die Umstellung der Lieferungen auf Flüssiggas würden die Preise für die Endverbraucher weiter in die Höhe treiben. Selbst beim aktuellen Preissprung ist mit einem Anstieg der Inflationsrate um mehrere Prozentpunkte zu rechnen, was die wirtschaftliche Erholung erheblich ausbremsen dürfte (siehe etwa Bachmann et al., 2022; Kolev/Obst, 2022).

Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von russischen Rohstoffen und anderen Lieferungen ist im Branchenvergleich sehr unterschiedlich (Abbildung). Während pro 100 Euro Wertschöpfung im Dienstleistungsbereich im Jahr 2018 (für welches die aktuellsten OECD-Daten des Wertschöpfungshandels vorliegen) lediglich 50 Cent aus Russland kommen, ist die Abhängigkeit im Verarbeitenden Gewerbe wesentlich stärker. Dort kommen 1,9 Prozent der für die Endnachfrage in Deutschland benötigten Wertschöpfung aus Russland. Dabei entfällt ein Drittel davon auf Energieprodukte wie Erdgas und Erdöl. Die restlichen zwei Drittel sind andere Rohstoffe, Chemikalien, verarbeitete Metallprodukte, Dienstleistungen. Neben der Herstellung von Metallen und der Strom- und Wärmeerzeugung weist insbesondere die Chemische Industrie in Deutschland eine starke Abhängigkeit von Russland auf: Ein durchschnittliches deutsches Chemieprodukt im Wert von 100 Euro enthält 2,50 Euro an russischer Wertschöpfung, davon 0,90 Euro russische Energieprodukte und 1,60 Euro andere Produkte. In der Automobilindustrie und im Maschinenbau werden auch wichtige Vorprodukte aus Russland importiert. Ein durchschnittliches deutsches Auto im Wert von 50.000 Euro enthält 500 Euro an russischer Wertschöpfung, davon 150 Euro russische Energieprodukte und 350 Euro andere Produkte – etwa Palladium für die Herstellung des Katalysators. Eine durchschnittliche deutsche Maschine für den heimischen Markt im Wert von 100.000 Euro enthält 940 Euro an russischer Wertschöpfung, davon 270 Euro russische Energieprodukte und 670 Euro andere Produkte. Gesamtwirtschaftlich betrachtet entfällt im Durchschnitt pro 100 Euro Endnachfrage in Deutschland 1 Euro auf russische Wertschöpfung.

Diese branchenbezogene Analyse kann nur einen ersten Eindruck von der Abhängigkeit von russischen Importen vermitteln. Dabei wird die Komplexität der Wertschöpfungsketten erheblich unterschätzt. Wenn nur ein geringer Wertschöpfungsanteil etwa auf russisches Gas entfällt, die Metallbauteile für das Auto jedoch ohne das für die Prozesswärme benötigte Gas nicht hergestellt werden können, dann steht nicht nur die Fabrik für die Metallbauteile still, sondern auch alle nachgelagerten Produktionsstufen in der Autoindustrie. Ein ähnliches Beispiel lieferten die Produktionsausfälle aufgrund fehlender Halbleiter im Jahr 2021 und fehlender Kabel aus der Ukraine seit Beginn des Ukraine-Konflikts. Das Ergebnis eines Lieferstopps von Erdgas – ob von russischer oder europäischer Seite – wäre ähnlich: Produktionsausfälle, Kurzarbeit und gar Arbeitslosigkeit, deren Ausmaß kaum abzuschätzen ist. Zudem könnte der Lieferstopp auch weitere handelspolitische Gegenreaktionen nach sich ziehen, die sich an anderen Stellen entlang der Wertschöpfungsketten deutscher Unternehmen auswirken würden.

Somit ist insbesondere im Falle Russlands davon auszugehen, dass die Abhängigkeit Deutschlands wesentlich höher ist, als die Zahlen suggerieren. Das liegt daran, dass die aus Russland importierten Produkte am Anfang der Wertschöpfungskette stehen. Ähnliches gilt auch für zahlreiche Produkte, die aus der Ukraine bezogen werden, wie etwa Kabelbäume oder Neon. Zwar können mittelfristig die meisten Importe aus diesen Ländern durch Lieferungen aus anderen Ländern substituiert werden. Doch gerade die Halbleiterkrise zeigte, wie komplex und langwierig Anpassungen der Wertschöpfungskette sein können – insbesondere, wenn die Rohstoffe für die ersten Produktionsschritte entlang der Wertschöpfungskette fehlen oder nur langsam gewonnen werden können. Für den mittelfristige Reduzierung der Abhängigkeit ist es dennoch von Vorteil, dass gerade homogene Güter wie Rohstoffe aus Russland importiert werden. So entfielen im Jahr 2020 mehr als 43 Prozent der globalen Palladiumproduktion auf Russland, doch die größten Vorräte an Metallen aus der Platinum-Gruppe (platinum group metals, PGMs), zu denen Palladium zählt, besitzt mit mehr als 91 Prozent Südafrika (Government of Canada, 2022). Und auch was Energieträger wie Erdgas und Erdöl angeht, bestehen mittelfristig Alternativen, zumal die Nutzung dieser Rohstoffe aus klimapolitischen Gründen an Bedeutung verliert.

PDF herunterladen
Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft
Galina Kolev IW-Kurzbericht Nr. 23 21. März 2022

Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Mehr zum Thema

Artikel lesen
Matthias Diermeier / Christian Oberst / Samina Sultan in Aus Politik und Zeitgeschichte Externe Veröffentlichung 25. März 2024

Europa der Regionen?: Wahlbeteiligung und Euroskepsis bei den Europawahlen

Vom 6. bis 9. Juni 2024 findet die zehnte Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. Zwar wird die Europawahl voraussichtlich auch in diesem Jahr stark von der nationalen politischen Kultur, den länderspezifischen Diskursen sowie den wirtschaftlichen ...

IW

Artikel lesen
Michael Hüther im Handelsblatt-Podcast Audio 15. März 2024

Ampel-Koalition: „Die konzeptionellen Überlegungen liegen ziemlich weit auseinander“

Im Handelsblatt-Podcast „Economic Challenges“ diskutieren IW-Direktor Michael Hüther und HRI-Präsident Bert Rürup, wie unterschiedlich die Meinungen in der Ampel-Koalition mit Blick auf den ökologischen Umbau sind. Hüther betont die Dringlichkeit einer ...

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880