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Michael Hüther / Martin Beznoska / Vera Demary /Wido Geis-Thöne / Jochen Pimpertz / Axel Plünnecke / Holger Schäfer / Thilo Schaefer / Michael Voigtländer IW-Nachricht 1. November 2019

GroKo-Halbzeitbilanz: „Kontinuierlich schwere Denkfehler“

Die Große Koalition hat für Anfang November eine Halbzeitbilanz angekündigt – um zu überprüfen, welche Vorhaben auf dem richtigen Weg sind und wo nachgebessert werden muss. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat sich die wichtigsten Projekte der Großen Koalition angeschaut und kommt zu einem gemischten Ergebnis.

Im Koalitionsvertrag, auf den sich CDU, CSU und SPD am 12. März vergangenen Jahres geeinigt haben, findet sich auf Seite 174 ein besonders bemerkenswerter Satz: „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit die Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“ Die Urteile der IW-Experten im Überblick:

Michael Hüther, IW-Direktor:
„Ein ,Weiter so' werde es nicht geben, hieß es zu Beginn. Doch mit Ausnahme des Fachkräftezuwanderungsgesetzes ist es genau dazu gekommen: Die Große Koalition verharrt im Stillstand. Sie hat zwar immer wieder versucht, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren – wie beim Klimapaket beispielsweise –, erliegt aber kontinuierlich schwerwiegenden Denkfehlern. Der gravierendste ist der Glaube, dass sich Deutschland ohne ein massives Investitionsprogramm zukunftsfähig machen lässt. In Zeiten, in denen der Realzins unter der Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts verharrt, lassen sich öffentliche Investitionen via Kredit finanzieren. Der Bedarf ist gegeben: Bildung, Dekarbonisierung, Digitalisierung, Wohnen und Verkehr lauten die Themen. Dafür benötigen wir 450 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren, finanziert und abgesichert gegen Umschichtungen in den Haushalten über einen Deutschland-Fonds.“

Martin Beznoska, IW-Steuerexperte, zum Solidaritätszuschlag:
„Das Kabinett will ab dem Jahr 2021 rund 90 Prozent der Einkommensteuerzahler vom Soli entlasten. Der Bund muss damit auf elf Milliarden Euro der geschätzten Gesamteinnahme von 21 Milliarden Euro verzichten. De facto entwickelt sich der Soli zu einer Unternehmenssteuer, da Körperschaften und Personenunternehmer dann rund 57 Prozent des verbleibenden Soli-Aufkommens tragen – eine Hypothek für den Wirtschaftsstandort Deutschland.“

Vera Demary, IW-Digitalexpertin, zum geplanten Ausbau von 5G:
„Deutschland soll Leitmarkt für 5G werden. Davon sind wir jedoch weit entfernt, da aufgrund der langen Diskussionen der Bundesregierung zu den Auflagen erst im August 2019 die nationalen Frequenzen final zugeordnet wurden. Geplant war dies für 2018. Die lokalen Frequenzen, deren Bereitstellung besonders wichtig für den Standort ist, sind aufgrund von Streitigkeiten über die Gebührenhöhe noch nicht einmal vergeben. Zudem ist immer noch ungeklärt, ob chinesische Technologie für den Netzaufbau genutzt werden darf. Insbesondere hier muss die Regierung schnell Klarheit schaffen.“

Wido Geis-Thöne, IW-Migrationsexperte, zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz:
„Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in Europa ist Deutschland zunehmend auf Fachkräfte aus Drittstaaten angewiesen. Damit es diese auch tatsächlich gewinnen kann, ist ein moderner zuwanderungsrechtlicher Rahmen notwendig. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat die Regierung wichtige Verbesserungen bei den Zugangsmöglichkeiten auf den Weg gebracht. Insbesondere gilt dies für in Deutschland stark gesuchten beruflich Qualifizierten. Bei der Reform der Verwaltungsabläufe war sie allerdings sehr zaghaft.“

Jochen Pimpertz, IW-Rentenexperte, zur Grundrente:
„Beim Thema Grundrente steckt die GroKo bei der Frage der Bedürftigkeit fest. Ohne Prüfung drohen vier von fünf Ruheständler von einer Rentenaufstockung zu profitieren, obwohl sie gar keine Hilfe brauchen. Eine Mindestbeitragszeit diskriminiert zudem beim Zugang, gegen verschämte Altersarmut hilft die Grundrente erst gar nicht. Statt einer teuren Grundrente sollte die GroKo besser die Bedürftigkeitsprüfung so organisieren, dass sie als weniger beschämend empfunden wird.“

Axel Plünnecke, IW-Bildungsexperte, zum Gute-Kita-Gesetz:
„Bei der frühkindlichen Bildung in Deutschland besteht weiterhin ein Engpass an Plätzen für unter Dreijährige sowie Potenziale für Qualitätsverbesserungen. An vielen Stellen bestehen dabei noch  Finanzierungsprobleme. Daher ist es richtig, dass der Bund mit dem Gute-Kita-Gesetz 5,5 Milliarden Euro zur Qualitätsverbesserung ins System pumpt. Kritisch zu sehen ist allerdings, dass er den Ländern die Entscheidung überlässt, wie das Geld eingesetzt werden soll. So können die Länder auch die Mittel für die Senkung der Beiträge einsetzen und diese nicht vollständig für eine Verbesserung der Qualität einsetzen. Der Abbau von Unterschieden bei den Betreuungsschlüsseln und weiteren Qualitätsaspekten werden folglich nicht mit der notwendigen Priorität versehen. Hier hätten mit dem Gesetz auch Mindeststandards definiert werden sollen.“

Holger Schäfer, IW-Arbeitsmarktexperte, zum Befristungsgesetz: 
„Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung verabredet, die Befristung von Arbeitsverträgen strenger zu regulieren. Eine unmittelbare Notwendigkeit dafür ist aber nicht erkennbar. Der Anteil der Befristungen hat in den vergangenen zehn Jahren nicht nennenswert zugenommen. Eine ausufernde Befristungspraxis gibt es allenfalls im öffentlichen Dienst. Betriebe brauchen ein Mindestmaß an Flexibilität, um vorübergehende Bedarfe an Arbeit zu decken. Auch Beschäftigte können profitieren: Sie erhalten Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt, die es ohne die Befristungsmöglichkeit nicht gäbe.“

Thilo Schaefer, IW-Umweltexperte, zum Klimapaket:
„Mit dem Klimapaket entstehen nun in schneller Folge Gesetze – dabei wirkt vieles noch nicht vollständig durchdacht und wirft zahlreiche Fragen auf, die noch zu klären sein werden. So positiv der Einstieg in ein marktliches Instrument zur Bepreisung von CO2-Emissionen in den Sektoren Verkehr und Wärme grundsätzlich ist, fehlt es dem Maßnahmenpaket nach wie vor an einem klar erkennbaren Konzept und damit an einem verlässlichen Rahmen, auf dessen Grundlage Unternehmen nun Investitionsentscheidungen in Deutschland treffen könnten.“

Michael Voigtländer, IW-Immobilienexperte zur Wohnungspolitik:
„Die Bundesregierung hat sich selbst das Ziel gesetzt, dass 375.000 Wohnungen pro Jahr entstehen sollen – dieses Ziel wird deutlich verfehlt. Um die Bautätigkeit anzuregen, sollte die Bundesregierung sich stärker darauf konzentrieren, Hemmnisse für die Bauflächenausweisung in den Ballungsräumen anzugehen. Gerade durch die finanzielle Unterstützung der betroffenen Kommunen könnte viel erreicht werden. Mit dem Baukindergeld wurde zwar richtigerweise der Zugang zu Wohneigentum erleichtert, aber die Maßnahme ist insgesamt zu teuer. Die Grundsteuerreform hingegen ist viel zu komplex, die Chance, mit einer Bodenwertsteuer auch Bauflächen zu mobilisieren, wurde vertan.“

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