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Michael Hüther auf www.dbresearch.de Interview 27. September 2011

"Wir brauchen einen starken Staat"

Vor etwa drei Jahren begann die globale Wirtschafts- und Finanzkrise. Derzeit verdichten sich die Zeichen, dass sich die Weltkonjunktur bereits wieder spürbar abschwächt. Im Interview mit DB Research spricht Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, über die Rolle des Staates.

Hat sich angesichts dieser Entwicklung Ihre persönliche Einschätzung zur Rolle des Staates geändert? Brauchen wir künftig eher mehr oder weniger Staat, etwa um wirtschaftliche Volatilität zu reduzieren?

Die Sicht auf die Rolle des Staates wurde durch die Finanzkrise, die Konjunkturkrise und die Staatsschuldenkrise dreifach geschärft. Die Finanzkrise zeigte, dass es gefährlich ist, manche Bereiche des Finanzmarkts hochreguliert zu überwachen und andere unausgeleuchtet zu lassen. Wir dürfen keine geografischen oder inhaltlichen Schlupflöcher lassen, die immer zur Arbitrage einladen.

Diese fundamentale Krise zeigte, dass in einer derartigen globalen Notsituation eine international koordinierte keynesianische Politik ein wichtiges Instrument ist, im Gleichschritt mit arbeitsmarktentlastenden Maßnahmen wie der Sonderregelung beim Kurzarbeitergeld.

Die Staatsschuldenkrise zeigt uns momentan, dass die Finanzmärkte sehr viel sensibler geworden sind, was die Finanzlage der Staaten angeht. Dies ist keine Überreaktion, sondern eine verspätete Erkenntnis, die dazu führt, dass Staaten in Zukunft besser haushalten müssen. Die Finanzmärkte sind global schuldenintolerant geworden.

Insgesamt kann die Frage also nicht pauschal mit „mehr oder weniger Staat“ beantwortet werden. Wir brauchen einen starken Staat – aber um ihn stark zu halten, dürfen wir ihn nicht ständig und überall bemühen. Wir müssen genauer hinschauen, wo und wie der Staat benötigt wird.

Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Industriepolitik in vielen Ländern an Bedeutung gewonnen, und sie spielt bis heute eine größere Rolle. Brauchen Europa und Deutschland – auch mit Blick auf industriepolitische Maßnahmen weltweit – mehr oder weniger Industriepolitik?

Wir erleben Zeiten hoher Volatilität. In solchen Zeiten halten sich Unternehmen mit entscheidenden Investitionen zurück. Obgleich wir in Deutschland einen kleinen Investitionsboom haben, sind die Unternehmen derzeit sehr zurückhaltend, was mittel- und längerfristig wirkende Investitionen angeht. Dies kann sich durchaus auf die Standorttreue der Unternehmen auswirken: Wird in der Zukunft ein größeres Paket an zuvor aufgeschobenen Investitionen getätigt, so ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass der Unternehmer die Standortfrage neu in den Blick nimmt, als bei einem steten Fluss an Investitionen am gleichen Standort.

Daher ist es wichtig, den Unternehmen im Augenblick der Investitionsentscheidung einen attraktiven Standort Deutschland zu bieten. Hier haben wir in einer aktuellen Umfrage ermittelt, dass den Unternehmen neben einer gut ausgebauten Infrastruktur insbesondere eine verlässliche Politik und Rechtssicherheit wichtig sind. Diese Antwort hat sicherlich mit den Unsicherheiten ständiger Politikwechsel zu tun. Auch die Verfügbarkeit von Fachkräften ist für die Unternehmen höchst bedeutend. Daher ist weniger eine konkrete Industriepolitik von Nöten als eine glaubwürdige und verlässliche Ordnungspolitik und ein starkes Bildungs- und Ausbildungssystem. Auch ein solides Wirtschaftsrecht und die Einhaltung von Verträgen seitens des Bundes, der Länder und Kommunen sind mehr denn je gefragt.

So wird die beste Grundlage für die Bewältigung des Strukturwandels geschaffen, nicht aber durch eine branchenselektive Industriepolitik. Dafür gibt es auch keine erfolgreichen Beispiele anderer Länder. In Frankreich, das in langer Tradition eine solche gestaltende Industriepolitik kennt, liegt der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung mit 12 Prozent nur noch halb so hoch wie in Deutschland.

Aktuell wird viel über die Aufgabenverteilung zwischen der EU und den Nationalstaaten diskutiert. Ist diese Aufgabenteilung zwischen der EU und den Mitgliedsländern aus Ihrer Sicht noch angemessen? Oder konkret: Wo sollte Brüssel mehr Kompetenzen erhalten? Und wo sollte die Rolle der Nationalstaaten – in Deutschland sogar der Bundesländer – gestärkt werden?

Hierzu gibt die ökonomische Theorie wertvolle Hinweise. So sollten öffentliche Güter dann möglichst zentral bereitgestellt werden, wenn der öffentliche Gutscharakter Grenzen überschreitet, oder falls erhebliche Größenvorteile realisierbar sind. Hier ist die Verteidigung ein Beispiel, ebenso europäische Infrastrukturnetze. Auch die Funktion der konjunkturellen Stabilisierung ist aufgrund der engen Verflechtung der Eurostaaten gemeinschaftlich anzugehen. Ein weiteres Feld, das mindestens europaweit – noch besser weltweit mit der EU als gewichtige Stimme – harmonisiert werden muss, ist die Regulierung der Finanzmärkte, da hier Schieflagen in einem Land Probleme in anderen Ländern nach sich ziehen. Außerdem kann nur eine weltweit einheitliche Regulierung verhindern, dass sinnvolle Regeln durch geografisches Ausweichen umgangen werden. Die EU hat also noch eine Menge Integrationsarbeit vor sich. Allerdings gilt in den meisten Politikbereichen weiterhin, dass diese national oder regional sicherlich bürgernäher, präferenzgerechter und vermutlich auch effizienter organisiert werden können. Nach dem Subsidiaritätsprinzip, das den europäischen Verträgen zugrunde liegt, ist die jeweils nächst höhere Ebene zunächst unterstützend und ermöglichend mit Blick auf die niedrigere Ebene gefordert, dann in eigener Verantwortung je nach der regionalen Streuung der externen Effekte. Das ist unverändert ein gutes Prinzip, es ist völlig in Einklang mit unserer bundesstaatlichen Ordnung.

Ein konkretes Beispiel für eine solche Aufgabenteilung zwischen der EU und den Nationalstatten ist eine "europäische Wirtschaftsregierung", die im Zuge der Schuldenkrise in der EU von mancher Seite gefordert wird. Was halten Sie grundsätzlich von einer solchen Einrichtung? Welche Aufgaben könnte sie sinnvollerweise übernehmen und welche nicht?

Diese Forderungen nach einer Wirtschaftsregierung bleiben ja zumeist undeutlich. Ein solcher Prozess sollte nicht auf Schnellschüssen beruhen, die in Krisenzeiten abgefeuert werden, sondern muss besonnen und geduldig ausgearbeitet werden. Eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung, die dafür derzeit der Anlass ist, wird einige Zeit in Anspruch nehmen.

Eine Annäherung wird ohnehin dezentral forciert, denn wir erleben einen grundlegenden Wandel in der Art, wie staatliches Handeln von den Finanzmärkten wahrgenommen wird. Die Staaten werden viel stärker als zuvor danach beurteilt, wie nachhaltig ihr Geschäftsmodell ist. Darin fließen viele Variablen ein, natürlich der Schuldenstand, aber auch die Investitionsstärke und die Wirtschaftskraft des Landes, die letztlich alle Staatseinnahmen speisen muss. Viele Staaten werden ihre Schuldenstandsquote reduzieren müssen. Dass dies möglich ist, zeigen die Erfahrungen erfolgreicher Konsolidierung.

Für alle Staaten wird also in Zukunft gelten, dass sie ein Mindestmaß an Haushaltsdisziplin mit einem investiven Ausgabenverhalten koppeln müssen. Diese Erkenntnis kommt spät, aber nicht zu spät. Dies – verschärfte Fiskalkriterien oder die Pflicht zur Schuldenbremse – zu koordinieren, kann hilfreich sein, gerade um an den Finanzmärkten glaubwürdig zu sein. Die französische Vorstellung einer Wirtschaftsregierung geht aber weit darüber hinaus und ist von der Tradition ihrer Industriepolitik geprägt. Doch – wie schon verdeutlicht – liegt darin kein Vorbild für Europa.

Deutschland hat mit der Schuldenbremse eine Regelung eingeführt, welche die Politik vom Weg der stetig steigenden Staatsverschuldung abbringen soll. Sollten mehr Länder diesem Beispiel folgen?

Ein klares Ja. Politiker brechen nicht gern anerkannte Regeln, obwohl man in diesen Zeiten anderes glauben könnte. Eine Schuldenbremse würde das Versprechen einer nachhaltigen Haushaltspolitik in den nationalen Verfassungen verankern, was einen wichtigen Gegenpol zur staatsimmanenten Schuldenpräferenz bietet. Dies ist – neben dem Marktdruck – ein zweiter wichtiger Schritt weg von unkontrollierter Verschuldung, die ja im Euroraum auch dem Nachbar schadet und daher mit gutem Grund nach den Maastricht-Kriterien verboten war. Nur wurden diese Kriterien leider aufgeweicht, daher brauchen wir nun glaubwürdigere Maßnahmen. Und was kann wirkmächtiger sein als eine nationale Verfassungsregel?

Aus grundsätzlicher Sicht: Kann mehr regelgebundene Politik dabei helfen, ökonomisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen? Oder entbindet dies die Politik – gerade in Krisenzeiten – zu sehr von ihrer Verantwortung und ihren gestalterischen Möglichkeiten?

Politik hat den angeborenen Hang zur Orientierung an kurzfristigen Wünschen, mit der Gefahr, die lange Sicht aus dem Blick zu verlieren. Diesem Trend kann man durch Regeln entgegensteuern, und das halte ich für sinnvoll. Gestalten kann die Politik weiterhin genug, gerade im Fall einer Rezession hat der Bund in Deutschland ja durchaus die Möglichkeit, keynesianische Verschuldungspolitik zu betreiben. Und für systemische Krisen ist das eine gute Antwort, nicht aber für das tägliche Klein-Klein konjunktureller Schwankungen.

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