Die Demografie setzt die Sozialkassen unter Druck, die Arbeitskosten steigen. Das liege auch am Versagen der Politik, rügt IW-Direktor Michael Hüther im Interview mit der Wirtschaftswoche – und schlägt unpopuläre Reformen vor.
Sozialsystem unter Druck: „Wir sollten 100 Stunden mehr im Jahr arbeiten”
Herr Hüther, Anfang kommenden Jahres steigen die Sozialversicherungsbeiträge erstmals seit Jahren wieder über die 40-Prozent-Marke. Ist das angesichts der massiven anderen Probleme der Wirtschaft eine Petitesse – oder ein neuer Nackenschlag?
Die steigenden Sozialabgaben sind für die deutsche Wirtschaft der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt – und auch für ausländische Investoren ein negatives Signal. Die Lohnstückkosten sind bereits 2021 deutlich stärker gestiegen als im Schnitt der Eurozone. Wir müssen in der aktuellen Standortdebatte nicht nur über die Energiepreise reden, sondern auch wieder verstärkt die Arbeitskosten in den Blick nehmen.
Was erwartet die Wirtschaft von der Bunderegierung?
Die Politik kommt an einer grundlegenden Strukturreform der gesamten Sozialversicherung nicht vorbei. Die demografische Entwicklung unterhöhlt Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gleichermaßen. Doch leider werden die dramatischen Folgen der Demografie auf die sozialen Sicherungssysteme von der Bundesregierung weitgehend ignoriert.
In der gesetzlichen Krankenversicherung etwa haben wir seit Jahren keine Kostendämpfung mehr erlebt. Die Reform der Krankenhausfinanzierung ist lange überfällig. In der Pflege hat die Amtszeit von Jens Spahn sehr viel Geld gekostet, aber keine strukturellen Reformen gebracht.
Ergibt es ökonomisch Sinn, die Beiträge durch weiter steigende Staatszuschüsse an die Sozialkassen zu stabilisieren?
Nein. Es ist keine Alternative zu Reformen, immer mehr Steuergelder in die Sozialversicherung zu pumpen. Zumal die alte Begründung, Steuerzuschüsse seien ein Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen, angesichts der aktuellen Höhe der Staatszuschüsse kaum noch zieht.
Konkret: Welche Reformen schlagen Sie vor?
Ein Teil der Lösung lautet: Wir müssen mehr und länger arbeiten. Dazu zählt eine Dynamisierung des Renteneintrittsalters und eine höhere Jahresarbeitszeit. Die Erwerbsquote ist zwar mittlerweile sehr hoch; sie liegt bei den 20- bis 64-Jährigen bei rund 80 Prozent. Beim Arbeitsvolumen aber gibt es noch Potenzial.
Wie viel mehr sollten wir Ihrer Ansicht nach arbeiten?
Rechnerisch arbeiten die Deutschen pro Woche zwei Stunden weniger als die Schweizer. Würden wir im Jahr 100 Stunden mehr arbeiten, ließen sich bis 2030 rund 4,2 Milliarden Arbeitsstunden ersetzen, die durch die Überalterung verloren gehen.
Zum Interview auf wiwo.de

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