Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin fürchtet, dass die USA sich in eine Oligarchie verwandeln. IW-Direktor Michael Hüther hält die Schwäche der Europäer für selbst verschuldet. Im Interview mit der Zeit streiten sie über den richtigen Weg aus der Abhängigkeit.
Abhängigkeit Europas: Wie soll man Trump entgegentreten?
Donald Trump ist kaum eine Woche zurück im Amt, schon droht er mit Strafzöllen. Wie sollte sich Europa verhalten?
Trittin: Ich glaube, es gibt einen großen Unterschied zur ersten Amtszeit. Damals hat man gedacht, es mit einem normalen Regierungswechsel zu tun zu haben, der auch wieder rückgängig gemacht werden kann. Das, was wir jetzt erleben, geht darüber hinaus. In den USA droht ein fundamentaler Systemwechsel von einem demokratischen Kapitalismus zu einem oligarchischen System. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir es mit einer umfassenden geopolitischen Herausforderung zu tun haben. Es wäre naiv, darauf zu setzen, dass in vier Jahren wieder alles gut ist.
In der ersten Amtszeit hat die EU auf die Drohung, Zoll auf europäische Produkte zu erheben, reagiert, indem sie ihrerseits mit Zöllen auf amerikanische Waren drohte. Ist das auch jetzt eine sinnvolle Vorgehensweise?
Hüther: Die Strategie folgte dem Prinzip: Wie du mir, so ich dir. So etwas werden wir möglicherweise erneut sehen. Aber das reicht nicht. Die EU sollte jetzt eine handelspolitische Agenda verabschieden, mit der wir neue Märkte außerhalb der Vereinigten Staaten erschließen. Das würde ein Stück weit die Abhängigkeit reduzieren. Die Frage ist dann: Wie schaffen wir es, andere Länder mit ins Boot zu holen, etwa im Globalen Süden? Das bedeutet auch, dass wir Kompromisse machen müssen – etwa wenn es um den Nachweis von sozialen und ökologischen Standards in Handelsverträgen geht. Mit einer primär moralischen Attitüde kommen wir nicht weit. Das bereits beschlossene Mercosur-Abkommen mit den Staaten Lateinamerikas muss jetzt schnell ratifiziert werden.
Dieses Abkommen war bei den Grünen lange umstritten, Herr Trittin.
Trittin: Die Grünen haben beim Thema Handel ihre Position verändert, gerade um die Abhängigkeit von China zu verringern. Dann müssen Sie Verträge mit anderen Staaten abschließen, idealerweise mit demokratischen. Deshalb sind wir für Mercosur. Ich bin dagegen, solche EU-only-Abkommen zu überfrachten, aber man muss darauf achten, dass faire Wettbewerbsbedingungen herrschen. Dazu gehört, dass man ausschließt, dass sich Unternehmen durch Kinderarbeit oder Zwangsarbeit einen Vorteil verschaffen. Das ist eine Frage der gleichen Wettbewerbsbedingungen, nicht nur eine moralische Frage.
Hüther: Zu konstatieren ist doch, dass die europäische Moderne nach 200 Jahren möglicherweise zu Ende ist. Wenn Sie sich im Rest der Welt umschauen, dann stellen Sie fest: Das, was der Historiker Heinrich August Winkler das Projekt des Westens nennt – das Ausprägen von Regeln, von Verfahren, von bestimmten Standards –, wird heute vielerorts nicht mehr als vorbildhaft wahrgenommen.
Trittin: Wir müssen unterscheiden zwischen der Idee des Westens und dem real existierenden Westen. Länder wie Indien oder Brasilien haben die Werte des Westens gegen den Westen durchgesetzt. Indien hat sich aus der britischen Kolonialherrschaft befreit, der derzeitige brasilianische Präsident wurde von einer Militärdiktatur ins Gefängnis gesperrt, die von den Europäern und den USA unterstützt wurde. Die westlichen Werte – freie Wahlen, freie Presse – sind immer noch attraktiv, aber die Staaten des Westens haben ihre eigenen Werte oft verraten.
Hüther: Was bedeutet das mit Blick auf Trump? Henry Kissinger hat vor mehr als 30 Jahren einmal gesagt: Die deutsch-amerikanische Freundschaft speise sich nicht unbedingt aus gemeinsamen Erfahrungen oder Idealen, sondern daraus, dass wir in der Lage sind, gemeinsame Projekte zu definieren. Das ist die Perspektive, die wir einnehmen sollten. Donald Trump ist auch auf Verbündete angewiesen, zum Beispiel im Umgang mit China.
Trittin: Aber wir haben es jetzt in Washington mit einer Administration zu tun, die auf Verbündete keinen Wert mehr legt. Die Bundesregierung hat in ihrer China-Strategie immer gesagt: China ist ein Partner, ein Wettbewerber und ein systemischer Rivale. Das ist der Dreiklang. Die USA waren bislang Partner und Wettbewerber. Als Partner waren sie meist sehr angenehm, als Wettbewerber durchaus ruppig und rücksichtslos. Mit einem oligarchischen System bildet sich im transatlantischen Verhältnis eine systemische Rivalität heraus.
Worin besteht diese Rivalität?
„Wir müssen andere Länder ins Boot holen. Mit einer primär moralischen Attitüde kommen wir nicht weit“ – Michael Hüther
Trittin: Ich glaube, im Kern müssen wir verstehen, dass autoritäre oder oligarchische Systeme dazu neigen, nicht bloß Bill Clintons Motto "It’s the economy, stupid" zu folgen. Das wurde schon im Verhältnis zu Russland falsch eingeschätzt. Putin nimmt keine Rücksicht darauf, dass ihm die Sanktionen und der Krieg wirtschaftlich schaden. Er hat imperiale Ambitionen. Und bei Trump, der die ökonomische einer aggressiven politischen Logik unterordnet, könnte es in eine ähnliche Richtung gehen. Ich weiß nicht, ob es am Ende wirklich so kommt. Aber wir sollten darauf vorbereitet sein.
Hüther: Im Verhältnis zu China leuchtet mir der Begriff der systemischen Rivalität ein, mit Blick auf die USA überzeugt er mich nicht. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob das für Trump alles so glatt laufen wird. Er macht jetzt diese Deportationen, da geht es um Leute, die am Arbeitsmarkt fehlen werden. Dann kommen vielleicht Zölle, die dazu führen werden, dass die Preise für Importwaren steigen. Und möglicherweise erhöht er die Verschuldung weiter, weil er die Steuern senken will und Schulden ihm schon immer egal waren. Das kann dann schnell zu einem Anstieg der Inflation führen, den die Menschen im Alltag spüren. Die Frage wird sein, ob er dann noch seine Truppen zusammenhalten kann. Ohne Zweifel: Die Situation ist ernst, aber wir sollten als Europäer auch nicht in Panik verfallen, sondern unsere Interessen definieren und uns entsprechend verhalten.
Zeigt das Beispiel Kolumbien nicht die Grenzen des Widerstands? Das Land hat die Rücknahme von Migranten aus den USA verweigert, Trump hat daraufhin mit Zöllen gedroht, und die Regierung ist eingeknickt.
Trittin: Man muss seine Kräfte schon richtig einschätzen können. Kolumbien ist ein kleines Land, aber das trifft auf Europa nicht zu. Der europäische Binnenmarkt ist mit fast 450 Millionen Menschen der größte gemeinsame Markt der Welt. Daran kommen auch die amerikanischen Unternehmen so leicht nicht vorbei. Ich bin schon dafür, an bestimmten Stellen Klartext zu reden. Und Klartext heißt zum Beispiel, dass das Ziel, sich mit Grönland ein Land einzuverleiben, das schon zu Dänemark gehörte, als es die USA noch nicht einmal gab, einer klaren Antwort bedarf. Diese Antwort muss meines Erachtens lauten: Wir werden als Europäer im Ernstfall Grönland verteidigen – auch wenn alle Beteiligten wissen, dass dieser Fall nie eintreten wird.
Hüther: Dafür müssten wir als Europäer geeint auftreten. Das gelingt aber momentan nicht, was viel mit den deutsch-französischen Beziehungen zu tun hat, die schon unter Merkel in keinem guten Zustand waren. Unter Scholz haben sie sich noch einmal verschlechtert. Früher hat man sich vor wichtigen Entscheidungen abgesprochen, heute wird einfach etwas verkündet, was den Partner verärgern kann. Mein Punkt ist: Die neue Administration wird versuchen, die Mitgliedsstaaten gegeneinander auszuspielen. Eine solche Bilateralisierung würde die EU empfindlich schwächen. Darauf darf man sich nicht einlassen. Trump macht eine Politik, von der er glaubt, dass sie im amerikanischen Interesse ist. Das kann man ihm erst einmal nicht vorwerfen. Er ist der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und nicht der Präsident der Europäischen Kommission. Wir müssen demgegenüber begreifen, dass wir unser Schicksal gemeinsam in die Hand nehmen müssen.
„Die Antwort muss meines Erachtens lauten: Wir werden als Europäer Grönland im Ernstfall verteidigen“ – Jürgen Trittin
Trittin: Ich finde es wirklich schwer nachvollziehbar, warum das Verhältnis zu Frankreich von Scholz so vernachlässigt wurde. Helmut Kohl hat mit einer von den Kommunisten tolerierten Regierung von François Mitterand zusammengearbeitet, und Olaf Scholz findet keine Ebene mit dem Liberalen Emmanuel Macron? Das ist etwas, das die nächste Bundesregierung dringend angehen muss. Ich mache mir aber Sorgen, dass Deutschland aus Angst vor den Konsequenzen für die Exportwirtschaft eine entschlossene Reaktion der Europäischen Kommission verhindert, wenn es zu einer konkreten Zolldrohung durch Trump kommt. Das wäre fatal. Und möglicherweise auch unnötig. Es ist schließlich nicht in allen Fällen so, dass die amerikanischen Produzenten einfach auf amerikanische Lieferanten umsteigen können, wenn sich ausländische Güter verteuern. Ich höre beispielsweise aus dem deutschen Maschinenbau, dass man dort davon ausgeht, die durch die Zölle verursachten Kosten an die Kunden in den Vereinigten Staaten weiterreichen zu können. Das Erpressungspotenzial ist in dieser Branche erheblich geringer, weil am Ende die amerikanischen Verbraucher die Rechnung bezahlen.
Hüther: Es kommt stark auf die Branche an. In der Pharmaindustrie etwa liegt der Anteil der Exporte in die USA an der Gesamtproduktion bei 23 Prozent. Das sind so stark integrierte Produktionsketten, die auch mögliche Zölle überleben würden. Die Automobilindustrie hat ohnehin schon Produktionsstätten in den USA aufgebaut. Aber man sollte sich keine Illusionen machen: Die Vereinigten Staaten sind unser wichtigster Handelspartner, daran hat sich auch in der ersten Amtszeit von Donald Trump nichts geändert. Die Elastizität des deutschen Exports in die USA liegt im Moment bei 1,6. Das bedeutet: Steigt das amerikanische Bruttoinlandsprodukt um ein Prozent, dann steigt der Export um 1,6 Prozent.
Sind die Vereinigten Staaten unter Trump noch unser Verbündeter oder schon unser Gegner?
Trittin: Militärisch sind sie noch unser Verbündeter. Ob das so bleibt? Wenn Sie in den USA mit Demokraten und teilweise auch mit Republikanern reden, dann sagen viele: Trump ist ein Faschist, und wir stehen am Anfang einer faschistischen Regierung. Ich glaube, dass das noch nicht ausgemacht ist. Auch in der amerikanischen Gesellschaft gibt es Gegenkräfte.
Hüther: Ich glaube nicht, dass die militärische Allianz infrage gestellt wird. Auch nicht in Washington. Am Ende überwiegen dann doch die gemeinsamen Interessen.
Gilt das selbst, wenn Trumps Verbündeter Elon Musk zur Wahl rechtsextremer Parteien aufruft?
Trittin: Im Fall von Musk würde ich die Zuschreibung Faschist gelten lassen. Er ist dabei, den Faschismus vom Nationalismus zu emanzipieren und zu globalisieren. Das ist sein Programm.
Hüther: Musk ist aber kein Mitglied von Trumps Kabinett. Und am Ende ist die Frage doch: Wie können wir unsere Meinungsvielfalt und auch die Medienvielfalt sichern? Die kann er ja nur aushebeln, wenn er hier in Europa über politische Strukturen verfügt. Dann sind wir wieder bei dem Punkt: Schafft es Europa, geschlossen aufzutreten? Schaffen wir es, wieder wettbewerbsfähig zu werden und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, uns selbst zu verteidigen? Das erfordert Reformen, und die erfordern Geld.
Trittin: Richtig. Und wir müssen klar und entschlossen sein. Wenn X oder ein anderer amerikanischer Digitalkonzern gegen europäisches Recht verstößt, dann müssen mögliche Gegenmaßnahmen gut begründet und gerichtsfest sein. Wir leben in einem Rechtsstaat. Man darf sich aber auch nicht davon einschüchtern lassen, wenn der amerikanische Vizepräsident sagt: Wenn ihr europäisches Recht umsetzt, dann entziehen wir euch den Verteidigungsschutz. So läuft das nämlich nicht.
Was würden Sie Trump sagen, wenn Sie ihm begegnen?
Trittin: Es kommt nicht so, wie du es dir denkst.
Hüther: Suche dir einen guten ökonomischen Berater.
Hier geht es zum Interview auf Zeit Online.

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