Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung prophezeit IW-Direktor Michael Hüther den wirtschaftlichen Ruin Russlands – auch weil Deutschland dauerhaft neue Gaslieferanten sucht. Da der Ukraine-Krieg die Inflation hierzulande massiv antreibt, warnt er vor einer Lohn-Preis-Spirale und mahnt die Tarifpartner zur Besonnenheit.
„Ökonomisch ist das Selbstmord”
Herr Hüther, die Inflation treibt auch die Lohnerwartungen hoch. Wie groß ist die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale?
Die Gefahr ist schon groß, weil ein Preisschub mit siebeneinhalb Prozent natürlich auf die Kaufkraft der privaten Haushalte wirkt. Zeitgleich haben wir einen dem Fachkräftemangel geschuldeten Anstieg der Einkommen über Lohnprämien. Offensichtlich wird daher auch der gesetzliche Mindestlohn von zwölf Euro schon vorweggenommen. Und die Gewerkschaften müssen für ihre Mitglieder, die Kaufkraftsicherung verlangen, in den Tarifrunden etwas herausholen. Daher muss allen klar sein: Auch die Unternehmen haben mit den deutlich gestiegenen Energiepreisen zu kämpfen, nicht nur Privathaushalte. Meine Sorge ist: Wenn jetzt noch höhere Personalkosten dazukommen, kann es sein, dass sich der Arbeitsmarkt dreht und wir an Beschäftigung verlieren.
Was raten Sie den Tarifparteien?
Die Lohnpolitik sollte mit kurz laufenden Tarifverträgen und Einmalzahlungen reagieren - anders geht das nicht. Was die Chemiebranche gemacht hat, eine Brückenlösung mit neuen Verhandlungen später, würde ich auch anderen Branchen empfehlen. Das wäre eine Teilentlastung der Beschäftigten, aber man kann diese Sondersituation nicht in die Lohntabellen einfließen lassen. Die Teuerung verursacht einen Wohlstandsverlust, den man nicht wegbuchen kann.
Wie kommen wir von siebeneinhalb Prozent Inflation auf ein Normalmaß?
Wir werden nicht dauerhaft solche Dynamiken erleben wie derzeit. Den großen Sprung haben wir durch den Krieg gegen die Ukraine gehabt. Der Consensus Forecast, ein wichtiges Vorhersageinstrument, erwartet im Durchschnitt des nächsten Jahres drei Prozent für Deutschland - das ist nicht unplausibel. Schon im zweiten Halbjahr 2022 werden wir geringere Raten sehen, weil wir im zweiten Halbjahr 2021 hohe Raten als Basis hatten. So wird sich das ein bisschen entspannen. Aber die privaten Haushalte müssen auch mit diesen Preisimpulsen umgehen. Wer dies am unteren Ende nicht kann, muss vom Staat - wie schon geschehen - etwas entschädigt werden.
Sollte die Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel zugunsten dieser Klientel auf null Prozent reduziert werden?
Selektiv in den Preismechanismus einzugreifen, ist immer die schlechteste Lösung. Wenn man bestimmte Grundversorgungsgüter in die Null-Zone rein nimmt, dann müssen sie als strukturelle Veränderung der Umsatzbesteuerung auch dauerhaft dort bleiben. Man kann sonst kaum politisch begründen, wenn die Sätze später wieder erhöht werden würden.
In Sorge vor einem russischen Lieferstopp hat ein Verteilungskampf um Gas begonnen. Verbandsführer und Unternehmen stellen die Priorisierung der Haushalte in Frage. Ist das richtig?
Für eine Änderung der Priorisierung müsste man das Gesetz ändern. Dafür gibt es mit Sicherheit keine Mehrheit. Ich verstehe die Forderung der Unternehmen, ja. Schließlich ist der volkswirtschaftliche Schaden ungleich höher, wenn ich ganze Produktionen schließen muss - anstatt dass alle die Raumtemperatur auf 18 Grad Celsius absenken.
Wo konkret liegt das Problem?
Man kann die privaten Haushalte weder zentral steuern noch einfach die Gaslieferung reduzieren. Man kann nur appellieren oder Anreize schaffen - etwa über eine Prämie, wenn beispielsweise der Gasverbrauch eines Haushalts um zehn Prozent sinkt. Doch spart der Verbraucher auch tatsächlich in diesem Umfang? Genau das muss der Lastverteiler wissen, wenn er die gelieferte Gasmenge vorab anders verteilen will. In Unternehmen ist eine Zuteilung einfacher, weil es mehr Kenntnisse über die Produktionsketten und die volkswirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Branchen gibt.
Wie geht man da vor?
Die Bundesnetzagentur arbeitet seit geraumer Zeit daran, die Priorisierung der Unternehmen und Branchen zu definieren. Das ist eine herausfordernde Arbeit, weil man sich die Produktionsketten genau anschauen muss. Doch nur so geht es. Wichtig ist mir vor allem eines: Wir dürfen kein Gas-Embargo aussprechen. Es ist nicht zielführend, da die Folgen bei uns größer sind als in Russland.
Erwarten Sie wegen der Lage an den Energiemärkten Produktionsabbrüche?
Wir haben schon jetzt einige Industrien, die wegen der Energiepreise kaum mehr zu halten sind. Nehmen Sie die Glasindustrie, die die Produktion bereits teilweise heruntergefahren hat. Da hilft auch die Abschaffung der EEG-Umlage, über die Ökostrom-Anlagen teilweise finanziert werden, zum 1. Juli nichts. Denn stromintensive Unternehmen waren sowieso davon ausgenommen.
Befürchten Sie, dass energieintensive Betriebe abwandern?
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Teil der Industrie nach Nordamerika abwandert. Bei Energie sind die Amerikaner Selbstversorger. Und der damit verbundene Energiekostenvorteil kommt derzeit noch deutlicher zum Vorschein. In Europa wird Energie dauerhaft teurer, was mit der aufwendigeren Verarbeitung von Flüssiggas zu tun hat.
Wann könnte das geschehen?
Vielleicht noch in diesem Jahr? Das hängt nicht zuletzt vom Kriegsverlauf ab.
Sind Sie wie Außenministerin Baerbock der Ansicht, dass wir nie mehr Gas aus Russland beziehen sollten?
Faktisch wird das so sein, weil wir langfristige Verträge mit den LNG-Betreibern abschließen müssen. Sonst lohnt sich der Aufbau der Infrastruktur nicht - weder bei uns noch bei den Amerikanern.
Was bedeutet das für die russische Volkswirtschaft?
Putin begeht mit seinem Land ökonomischen Selbstmord. Denn die Alternative, Gas kurzfristig an einen Dritten zu liefern, hat er nicht - es fehlt schlicht an den nötigen Pipelines. Russland ist eine ressourcenbasierte Oligarchenökonomie - korrupt ohne Ende. Ich sehe für das Land keine Perspektive. Eine interessante Einschätzung stammt von der russischen Notenbankchefin. Sie sagte, dass die Unternehmen zunehmend keine Rücklagen mehr haben. Sie sehe nur die Möglichkeit eines neuen Geschäftsmodells. Damit gemeint ist der Export alter Technologien. Denn den Zugriff auf neue hat das Land nicht mehr. Und viele Fachkräfte haben Russland verlassen. Ob das funktioniert? Da bin ich aber mal gespannt.
„Kein Auslandsgeschäft sollte ein Unternehmen gefährden können.”
Ein anderer Konfliktherd: Bundespräsident Steinmeier mahnt einen Umbruch in der globalen Arbeitsteilung an. Was bedeutet das für Firmen, die stark vom China-Geschäft abhängen?
Die Beziehungen werden künftig noch stärker von der Geopolitik als von der Geo-Ökonomie geprägt. Die Globalisierung war zwar auch bisher kein sich selbst regelnder Prozess effizienter Märkte- und Kapitalverteilung, sondern ein normatives Projekt, das für den Westen mit dem Export von Werten wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat verbunden ist. Dem steht der chinesische Staatskapitalismus immer klarer entgegen. Wer in China produziert, muss sich fragen: Wie gehe ich damit um, wenn Parteigruppen im Betrieb gegründet werden müssen oder wenn der Staat Daten zur sozialen Bewertung von Mitarbeitern fordert? Da kommen die Unternehmen in normative Konflikte.
Was würden Sie einem Unternehmen wie Mercedes, das vor allem von den hohen Gewinnen in China lebt, raten?
Kein Auslandsgeschäft sollte so ausgeprägt sein, dass das Unternehmen gefährdet ist, wenn es abgeschrieben werden muss. Jedes Unternehmen sollte ein Szenario dafür haben, wenn sich das Volumen des China-Geschäfts halbiert. Die Risiken müssen bepreist und das Geschäft abgesichert werden.
Gibt es einen Lichtblick?
Die Organisationsfähigkeit liberaler Demokratien wurde immer wieder unterschätzt. Russland begeht mit diesem Krieg ökonomischen Selbstmord, wird politisch degradiert und erreicht seine militärischen Ziele nicht. Daraus lässt sich ableiten: Unter rational ökonomischen Geschichtspunkten lassen sich konventionelle Kriege nicht mehr führen - humanitär verbietet sich das sowieso. Positiv gedacht, könnte das bedeuten: Es ist der letzte solche Krieg, der geführt wird.
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