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Michael Hüther in der Welt Interview 27. Oktober 2012

"Immer nur mehr Geld"

Seit den 70ern lebt Deutschland über seine Verhältnisse, sagt der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Michael Hüther, im Interview mit der Welt. Die Mitte sei nach links gerutscht.

Es weihnachtet sehr, denn die Regierung teilt Geschenkpakete aus: bei den Renten Zusatzzahlungen, es gibt Betreuungsgeld, den Mindestlohn, 450-Euro-Jobs. Woher nimmt der Staat das Geld?

Er nimmt es aus einer Illusion. Denn er glaubt, die Dynamik der Staatseinnahmen könne ewig fortgeschrieben werden. Das gilt einmal für steuerfinanzierte Leistungen wie das Betreuungsgeld und das gilt natürlich auch für die Rentenversicherung. Die derzeitige Beschäftigungsdynamik ist für dieses Mehr an Geld verantwortlich, doch es wird an keiner Stelle etwas getan, um diese Beschäftigungsdynamik zu stabilisieren.

Den Deutschen geht es gut. Aber auch wir haben trotz guter Konjunktur und "sprudelnder Steuern" eine immense Neuverschuldung. Bis in die 70er haushalteten die Regierungen gut, ja, es gab sogar noch Ersparnisse! Dann fing das Schuldenmachen an. Warum?

Damals herrschte die Meinung vor, dass der Staat konjunkturell gegensteuern solle. Keynes war in. Aber im demokratischen Gruppenstaat sammeln wir im Boom die Sachen nicht ein, die wir in der Rezession ausgeteilt haben. Das Argument gilt bis heute: Immer ist es gerade der falsche Zeitpunkt zum Sparen. In den 70ern expandierten zwei große Ausgabenblöcke: die Sozialpolitik und die Bildungspolitik. Und jeweils wurde nicht nach Effektivität und Effizienz gefragt, sondern es ging immer nur um mehr Geld.

Das ist doch heute auch nicht viel anders.

Doch. Die Hartz-IV-Reform hat dies kulturell und mental aufgebrochen. Die Ansprüche des Staates an den, der Hilfe bekommt, sind andere. Und die zweite, wie ich finde, fundamentale Veränderung ist die Rente mit 67. Auch wenn das derzeit wieder streitig scheint, kann ich mir nicht vorstellen, dass es wirklich zu einer solchen politischen Dummheit käme wie der, die Rente mit 67 zurückzunehmen.

Geht es um Haushaltssanierungen, werden immer wieder als Erstes Steuererhöhungen genannt. Und die Linke sagt besonders gerne: "Die Reichen sollen jetzt auch endlich ihren Beitrag leisten." So als ob sie das nicht schon täten.

Mich wundert, wie unkritisch diese Position durchgeht, auch beim neuen Kanzlerkandidaten der SPD. Wir haben aber ein All-time-high beim Steueraufkommen. Ich sehe an keiner Stelle eine Unterfinanzierung des Staates. Mit Sprüchen wie dem gegen "die Reichen" wird das Verteilungsthema kultiviert. Das ist in Deutschland außerordentlich beliebt. Man verspricht eine heilende Wirkung für eine Gesellschaft, die ansonsten auseinanderzubrechen drohe. Wenn wir die Strukturdaten der Besteuerung nehmen, 50 Prozent zahlen quasi keine Einkommensteuer, die oberen 25 zahlen 75 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens, dann sprechen die eine andere Sprache. Aber das Mantra hat sich verstetigt. Und es verteilt sich mittlerweile auf das gesamte politische Spektrum, was ich dramatisch finde.

Kann die Politik nicht sparen? Sie will eher nicht, oder?

Politik hat immer einen Gestaltungsanspruch. Sie ist nicht zufrieden, wenn etwas einigermaßen gut funktioniert, sondern sucht sich Problemzonen, die Legitimation bieten für neues staatliches Handeln. Es ist immer schwieriger, durch kluge Regeln etwas zu verändern als durch Geld. Der Anschein des Geldes ist, dass es wirkt. Offenkundig ist dies auch nach vier Jahrzehnten einer aus dem Ruder gelaufenen staatlichen Budgetpolitik die Maxime.

Seit 300 Jahren befinden sich die westlichen Gesellschaften in einem beispiellosen Wachstumsboom. Wir haben dadurch Aufklärung, Emanzipation, Verstädterung, Technisierung, Mobilität und Bildung erlebt, die unser Leben revolutioniert haben. Dieser Fortschritt ist ins kollektive Gedächtnis der Menschen, in ihre DNA gegangen. Oder doch nicht?

Schon, aber es gibt immer auch, wie der Philosoph Odo Marquard sagen würde, Kompensationsmuster. Wenn die schlechten Reste immer kleiner werden, konzentriert sich alles auf diese schlechten Reste. Die Negativierung wird dann zum Muster, anstatt dass man die Verbesserung der Welt und der menschlichen Existenz seit der Industrialisierung anerkennt und sich freut.

Wenn die Wirtschaft wächst, geht es den Menschen besser, die Verteilungskämpfe sind nicht so schlimm, viele arbeiten, haben mehr Chancen auf Teilhabe. Warum glauben dann so kluge Menschen wie Meinhard Miegel, es brauche kein Wachstum?

Wachstum ist doch nicht Ausdruck von Planung, sondern von Freiheit! Es ist ein organischer Prozess. In einer freien Gesellschaft kann jeder jeden Morgen etwas anders machen als zuvor. Und in der Regel versucht er, es besser zu machen. Das ist der Kern von Wachstum. Natürlich hat das auch quantitative Wirkungen, denn wenn wir optimieren, wenn unsere Dienstleistungen besser werden, wenn medizinisch-technischer Fortschritt kreiert wird, wenn die Autos effizienter werden, dann steigen auch Einkommensmöglichkeiten, weil mit guten Ideen etwas möglich wird. Man hat mich einmal inquisitorisch in einem Interview gefragt, ob ich für Wachstum wäre. Ja, habe ich gesagt, ich bin für technischen Fortschritt beispielsweise im Bereich der Medizin. Oder sind Sie etwa dagegen? Schweigen.

Ist die Wachstumskritik eine Luxusdebatte?

Die latente Wachstumsverachtung in reichen Gesellschaften verbindet sich nicht selten damit, die elementaren Nöte unterentwickelter Gesellschaften zu ignorieren. Ebenso wird der Wettbewerbsdruck durch solche Volkswirtschaften schnell als unfair bewertet. Und dann offeriert man großzügig den Export unserer Sozialstandards, was diese Länder überfordern muss. Es mag das Gewissen beruhigen, doch es ist noch nicht einmal gut gemeint.

Die gleichen Skeptiker sagen, Wachstum erhöhe die Ungleichheit. Stimmt das?

Nehmen wir das Bild des Staus auf der Autobahn. Wenn alle stehen, sind sie gleich. Der eine etwas klimatisiert, der andere weniger. Aber im Prinzip stehen sie alle. Löst sich der Stau aber auf, fahren natürlich die Schnelleren auch schneller an. In einer dynamischen Bewegung ohne Begrenzung sind die Langsamen zunächst einmal langsam. Was also kann ich ihnen anbieten, damit sie schneller zu werden? Bildung. Die Geschwindigkeit des Mitmachens hängt in der Tat von der Findigkeit des Einzelnen und von den Ressourcen ab, die ihm verfügbar sind. Und insofern hat Wachstum keine zwingende Ungleichheitsverteilung zur Folge, wenn eine Gesellschaft den diskriminierungsfreien Zugang zu Ressourcen bereitstellt.

Sind die Menschen im Niedriglohnsektor arm?

Vor Armut schützt in Deutschland der Sozialstaat wirksam. Bei Beschäftigungsaufbau verringert sich nicht nur – wie die jüngste DIW-Studie zeigt, aber auch Analysen des IW Köln – die Ungleichheit der Markteinkommen, gerade auch im Niedriglohnbereich steigen die Löhne dann spürbar. Deutschland ist in vielen Zusammenhängen einfach normaler geworden. Die Quote der Niedriglohnbezieher liegt seit 2004 bei 21 beziehungsweise 22 Prozent. Der heute beklagte Anstieg hat sich weitestgehend in den 90er-Jahren vollzogen.

Sozialverbände monieren die "wachsende Schere zwischen Arm und Reich". Sind wir wirklich ein Land der Ungleichheit?

Wenn Sie bestimmte Managergehälter in Relation setzen zu Einfachgehältern oder zu Facharbeitergehältern, dann hat sich in der Tat eine Spreizung ergeben. Die Frage, die ich dann immer stelle, ist die: Ist das wirklich gesellschaftlich relevant? Schauen Sie sich die Durchschnittsvergütung von eigentümergeführten Unternehmen oder Managern in dem großen Spektrum der mittelständischen und der mittelgroßen Unternehmen an – alles unspektakulär. Diese Gruppe ist relevant, nicht das relativ schmale Segment der globalen Spitzenverdiener.

Wie viel Ungleichheit hält eine Gesellschaft aus? Manager werden kritisiert ob ihrer Einkünfte, Sportler oder Künstler nicht.

Das habe ich auch nie ganz verstanden, im Grunde sind das ja Ich-AGs, während der Vorstand einer richtigen AG eine enorme Beschäftigungsverantwortung hat. Die Gesellschaft wird daran nicht zerbrechen, sondern an Intransparenz und mangelnder Bildungsdynamik. Der Staat hat sich an drei strukturellen Veränderungen versucht: an Hartz IV, an G8 und dem Bachelor. Beim ersteren war er erfolgreich, bei den letzteren beiden gibt es erhebliche Mängel bei der Umsetzung. Das ist nicht akzeptabel.

Im Herbst, der melancholischen Jahreszeit, häufen sich die Armutsberichte. Einer jüngsten Untersuchung zufolge fühlen sich 20 Millionen Deutsche arm und ausgegrenzt.

In der Selbstdefinition liegt schon so etwas wie Kapitulation. Denn man stellt sich hin und sagt, eigentlich muss ein anderer mir helfen. Ich selbst kann es nicht. Unsere Gesellschaft ist solidarisch mit Menschen in Not, aber grundsätzlich subsidiär. Dagegen ist man relativ gerne Opfer in Deutschland. Das gilt übrigens manchmal selbst für Eliten, die ja stets auch eine Vorbildfunktion haben. Ich erinnere mich an Bankvorstände, die erzählten, sie seien nicht für das Ergebnis ihres Hauses verantwortlich, sondern die Bundesregierung, weil sie Rahmenbedingungen setzte. Dann brauchen wir aber keinen Vorstand, dann reicht der Pförtner.

Vor 23 Jahren fiel die Mauer und wir dachten, der Sozialismus sei endgültig gescheitert. Nach der Finanzkrise hat man den Eindruck, das Pendel schlägt zurück. Sozialistisches Denken erreicht auch die Mitte der Gesellschaft, denn alle Maßnahmen auch der schwarz-gelben Regierung dienen der Steigerung der Umverteilung.

Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, redet niemand über die Qualität der Arbeit. Steigt aber die Beschäftigungsquote, kippt die Diskussion. Die Daten des sozioökonomischen Panel besagen aber, dass die Arbeitszufriedenheit unverändert hoch ist in diesem Land, zugleich fühlen wir uns heute selbstbestimmter. Arbeitsunfälle und Krankenstand haben sich in den letzten 30 Jahren deutlich reduziert. Und doch hat sich in unserer Gesellschaft die Mitte nach links verschoben. Und die Politik läuft mit.

Was ich überhaupt nicht verstehe, das ist heftige Kritik der Gewerkschaften an der Rente mit 67. Die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen hat sich innerhalb von zehn Jahren von 20 auf 42 Prozent erhöht. Da hat sich fundamental etwas verändert, aber unsere Debatten sind rückwärtsgewandt. Es wäre schön, wenn ein politisch Verantwortlicher auch mal Kante zeigen könnte und denen, die damals vehement gegen die mutigen Reformen waren, sagt: Hartz IV war richtig, es hat uns geholfen und uns weitergebracht. Ich glaube, es gibt genug Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die auf eine solche Ansage warten.

Ist es nicht paradox, dass wir, die erfolgreiche Exportnation, das Land mit den größten Wachstumsskeptikern sind. Und zugleich in einem Europa der Krise von den anderen Wirtschaftswachstum und Sparen erwarten?

Wir sind weder beim Konsolidieren so ehrgeizig, wie wir es von andern verlangen, noch bemühen wir uns, die Bedingungen für neue Arbeitsplätze weiter zu verbessern, eher das Gegenteil ist der Fall. So leben wir – und das zugegebenermaßen nicht schlecht – von den Anstrengungen früherer Jahre. Auf Dauer trägt diese Strategie nicht.

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